Skip to content

Zwei Unendlichkeiten (November 2021)

Es wird dem genialen Physiker Albert Einstein der Spruch zugeschrieben: Er kenne zwei Weisen der Unendlichkeit. Erstens die Unendlichkeit Gottes und zweitens die Unendlichkeit der Dummheit mancher Menschen. Und er fügte noch hinzu: Er sei sich nicht sicher, welche Unendlichkeit die größere sei. Etwa in diesem Duktus argumentiert auch Harald Welzer in seinem Buch: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens (Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2021). Er schreibt: Intergenerationelle Ungerechtigkeit sei nicht immer das Ergebnis von Absicht, „sondern nicht selten auch von Dummheit. Ich habe lebenslänglich versucht, Dummheit zu bekämpfen, ein vielleicht vergebliches Unterfangen.“ Und dann: Dummheit habe „nicht das Geringste mit geringer formaler Bildung zu tun, genauso wenig mit mangelnder Intelligenz. Es gibt intelligente Professoren, die dumm wie Schiffsplanken sind. Weil sie nicht in Zusammenhängen denken und keine neuen Synthesen aus einzelnen Gedankengängen bilden können“ (S. 248). Es sei durchaus möglich, so Welzer, „damit [mit Dummheit] beruflich sehr weit zu kommen, Postchef zu werden oder Kultusministerin,“ um dann, in diesen Funktionen, „jede Menge dummes Zeug zu erzählen oder gar anzurichten.“ Denn Dummheit sei „quantitativ eine Konstante, etwa 20 Prozent der Menschen sind in diesem Sinn dumm. Das kann, wenn man mit seiner Dummheit keinen Schaden anrichten kann, sogar ganz sympathisch sein“ (S. 249), doch Dummheit, so Welzer, könne auch sehr gefährlich werden, „wenn sie mit Macht gepaart ist. Dann kann in mörderischen Gesellschaften so etwas wie Adolf Eichmann herauskommen, unter milderen Bedingungen so etwas wie Andreas Scheuer“ (S. 250). Fazit: „Es gibt eine moralische Verantwortung, gegen Dummheit Position zu beziehen, wo immer sie in Erscheinung tritt. Das ist mühsam, tut manchmal weh und steht immer unter der dunklen Wolke der Vergeblichkeit. Dennoch.“ (S. 250).

Der Soziologe Harald Welzer reiht sich mit diesen kritischen Gedanken in eine alte Tradition ein, war es doch schon Erasmus von Rotterdam (1466–1536), die zentrale leuchtende Gestalt des Humanismus im 16. Jahrhundert, dem es gelungen ist, in seinem 1509 entstandenen und immer noch aktuellen Werk „Das Lob der Torheit“ die Toren seiner Zeit – Kaufleute, Fürsten, Mönche und Professoren, aber auch erstarrte Kirchenstrukturen – ironisch hoch zu loben, um sie dann wieder in ihr „schönes Leben hinaus“ zu entlassen. Hier einige Gedanken des großen Humanisten:  ● Was ihm Dummes just auf die Zunge kommt, das sagt er [der Tor] vor dem Publikum. ● Diejenigen, die mit Bedacht sich von der Weisheit Maske und Titel borgen und darin stolzieren wie der Affe im Purpur und der Esel in der Löwenhaut: trotz aller Verstellung gucken irgendwo die Eselsohren heraus. ● Und genau diese Leute, die so angeben, „sind nun faktisch Idioten“, wobei sie sich als Philosophen aufspielen, oder als Staatsmänner, Politiker, Fürsten und … und …, schreibt Erasmus von Rotterdam, sich fragend: „Dürften wir sie nicht Idiotosophen taufen?“ … Wer heute nach solchen Gestalten sucht, wird bald fündig: in den USA, in Europa, in Afrika. Die Dummheit hat seit dem 16. Jahrhundert nicht abgenommen. – In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts verbindet sich Dummheit gern „mit der Verachtung für alle, die anders sind“, und sie, die Dummheit, sei auch keine Frage des Geschlechts oder von „links“ oder „rechts“. Nein, denn sie, die Dummheit, kommt in allen politischen Schattierungen vor, so Harald Welzer, und ihr Kontrapunkt, die Klugheit, ist nicht an Status, Bildung, Geschlecht oder Herkunft gebunden. „Georg Elser, der völlig autonom ein Attentat auf Hitler durchführte, hatte nicht studiert“ (S. 250).

Den spirituellen Kontrapunkt zur Dummheit wird man aber bei den herausragenden Lichtgestalten – Buddha, Lao-Tse, Sokrates, Jesus und Bô Yin Râ – finden. Wer bei Diesen sucht, wird bald fündig. Und von allerlei Dummheiten erlöst. (O. Zsok)

An den Anfang scrollen