Allerheiligen und die Toten (November 2021)
In allen Kulturen lebten und leben Menschen, die liebevoll und sanft, pflichtbewusst und human ihr Leben so gestaltet haben, dass die soziale Umwelt in ihnen etwas „Heiliges“ wahrgenommen hat. „Heilig“ ist ein religiöses Urwort, das allen Religionen eigen ist und das einen unverletzbaren, ewig leuchtenden Ur-Wert andeutet. Im Leben bestimmter Menschen, die man als „Heilige“ bezeichnet, manifestiert sich eine Ausrichtung auf diesen lichtvollen Ur-Wert, ein Geöffnet-sein auf ein transzendent Gültiges und Vollkommenes. Es gibt nicht nur die bekannten Heiligen – wie zum Beispiel Franz von Assisi –, sondern es lebten und leben auch nicht kanonisierte „Heilige“, Frauen und Männer, die in ihrem Leben Funken dieses Ur-Wertes so konkret verkörpert und realisiert haben, dass ihre Strahlgewalt auch nach ihrem Tode für viele spürbar bleibt. In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts können wir in Europa an Gestalten wie Dag Hammarskjöld, Mahatma Gandhi, Roger Schutz und Edith Stein denken. – Mir sind aber auch mehrere Mütter bekannt, die voller Liebe und mit Herzenswärme ihre 3, 4 oder 7 Kinder erzogen haben, so dass noch die Enkel und Urenkel von der Strahlgewalt ihrer Liebe berührt sind. Mir sind einige alleinstehende Personen bekannt, die sich hingebungsvoll den Armen, den Flüchtlingen und den Randgruppen widmen, und ohne Berechnung caritativ tätig sind. Die oben genannten Gestalten kennen Viele, die danach gemeinten Mütter und alleinstehenden Personen sind nur in einem engeren Familien- oder Freundeskreis bekannt. Und doch sind alle – die allgemein bekannten und die kaum bekannten, noch lebenden oder toten Heiligen – würdig, bedacht zu werden. In ihnen offenbart sich das Heilige in individueller Form und Formung. Der Tag der Allerheiligen, der 1. November, ist der Gedächtnistag aller Heiligen im Himmel und auf Erden. Wer einmal konkret von solch einem Menschen im Inneren berührt worden ist, kann dieses exzeptionelle Erlebnis nicht mehr vergessen.
Und die Toten? Wohin gehen sie, die Toten? Die christliche Tradition spricht am 2. November eines Jahres von Allerseelen. Auf Latein: Commemoratio omnium fidelium defunctorum. Gemäß dem Allerseelengedicht „Ein Tag im Jahre ist den Toten frei“ (H. v. Gilms) lebt noch im Volksglauben (vor allem im süddeutschen Raum und in Österreich) die Auffassung, dass besonders geschädigte oder betrogene Tote als „arme Seelen“ nicht sofort zur Ruhe kommen können, sich noch in der irdischen Sphäre befinden, sich hier und dort bemerkbar machen und an Schuld oder Sühne erinnern. Die vielen Kerzen, die an diesem Tag in den Friedhöfen brennen, sind Symbole dafür, dass das Geheimnis des Menschen mit dem Ewigen Licht zu tun hat. Seinem innersten Wesen nach kommt der Mensch aus dem Ewigen Licht und kehrt irgendwann ins Ewige Licht zurück. Wie das Gebet besagt: „Und das Ewige Licht möge ihnen leuchten!“ Das heißt: Es besteht eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den auf Erden Lebenden und den Toten, und dass man den Toten durch Gebete helfen kann, auf dass sie im Jenseitigen ihren Weg zum Ewigen Licht weitergehen. Wem das alles zu märchenhaft klingt, kann sich trotzdem an die Toten erinnern, die er geliebt hat. In seiner Trauer kann er ein Zeichen dafür erkennen, dass die Liebe nicht vorbei ist. Denn, wie Viktor Frankl sagt: „In der Trauer lebt die Liebe weiter.“ (Das gleichlautende Buch von Elisabeth Lukas ist sicher sehr lesenswert). – Die Toten sind nicht einfach weg, ins Nichts verschwunden. Sondern? Sie weilen nicht mehr in der physisch-sinnlichen Sichtbarkeit. Doch in ihrer Geist-Gestalt leben sie, so lehren alle spirituellen Traditionen, „im Sein des Jenseitigen“, im „Reich des wesenhaften Geistes“, in der transzendenten Sphäre des unvergänglichen Ur-Lichtes. Dies zu erspüren, vermag der einzelne Mensch nur in seinem innersten Wesenskern, in seinem „Ich im Licht“. (O. Zsok)