Rechtspopulismus, Menschenwürde und Wertorientierung – eine Stellungnahme aus dem Geist der Logotherapie von Dr. phil Oliver Florig
Lange Zeit hatten rechtspopulistische Parteien in westlichen Ländern nur sehr überschaubare Wahlerfolge. Insbesondere in Deutschland gab es lange Zeit keine nennenswerte Partei rechts der Union. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Viele Menschen erleben diesen Aufstieg rechtspopulistischer und teilweise rechtsextremer Parteien als bedrohlich. Andere wiegeln ab: Es handele sich nur um eine notwendige Korrektur der allzu linksliberal geprägten Politik der letzten Jahrzehnte. Was also ist von diesen Parteien zu halten? Wenn man rechtspopulistische Parteien im Geiste der Logotherapie betrachtet und danach fragt, ob es sich um grundsätzlich wertorientierte Parteien handelt, erhält man ein klares Bild. Zwar berufen sich diese Parteien teilweise auf demokratische Werte und Prinzipien, verstehen diese aber grundlegend falsch. Vor allem ist ihr Auftreten letztlich nicht an Werten orientiert, sondern von Ressentiment, Hass und Angst getrieben.
Doch eins nach dem anderen. Was ist überhaupt Rechtspopulismus? Rechtspopulistisches Denken behauptet eine ganze Reihe von Gegensätzen. Den als abgehoben dargestellten Eliten wird das einfache Volk gegenübergestellt. Die Eliten regierten, so der Standardvorwurf, gegen die Interessen des Volkes. Häufig werden die Eliten auch als kosmopolitisch beschrieben, denen man die verwurzelten Menschen entgegenstellt. Dem politischen und akademischen Diskurs und seinen bisweilen schwer verständlichen Inhalten wird der gesunde Menschverstand entgegengesetzt, der einfache Lösungen liefere. Rechtsstaatliche Verfahren und Kompromissbildung werden verächtlich gemacht. Politik habe den Volkswillen – was immer das ist – direkt zu exekutieren. Liberale Individualrechte werden zugunsten des Kollektivs relativiert oder aufgehoben. Das gilt insbesondere für die Rechte von Minderheiten und Migranten. Die gewohnten Freiheiten und der übliche Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft hingegen werden gegen staatliches Handeln oder auch gegen öffentliche Kritik verteidigt. Das ist z.B. dann der Fall, wenn Eingriffe in das Privatleben der Bürger – etwa im Rahmen der Coronamaßnahmen oder des Klimaschutzes – nicht im Einzelnen kritisiert, sondern generell als diktatorisch gebrandmarkt werden. Diese scheinbar antiautoritäre Haltung steht im Widerspruch dazu, dass rechtspopulistische Parteien häufig von autoritären Führern geprägt werden. Dieser Widerspruch wird zumindest scheinbar gelöst durch die Behauptung, der jeweilige Anführer verkörpere den Willen des Volkes und verteidige dessen Freiheiten, während gleichzeitig die Rechte von Minderheiten eingeschränkt werden sollen, weil das Volk dies so wolle.
Die Möglichkeit des Populismus ergibt sich aus einer Spannung, die moderne Demokratien notwendig aufweisen. Denn einerseits verstehen Demokratien sich als „Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk“ (Lincoln). Andererseits sind Demokratien Rechtsstaaten. Das heißt der demokratischen Willensbildung sind durch die Rechte der einzelnen Bürger und durch die Gewaltenteilung Grenzen gezogen. Entscheidungen werden nach bestimmten Prozeduren getroffen, etwa durch komplizierte, mehrstufige Abstimmungsprozesse in den Parlamenten. Diese Prozeduren sollen auch Minderheiten Gehör verschaffen. Sie dienen außerdem der Kompromissfindung zwischen verschiedenen Gruppierungen und Interessen. Man könnte auch sagen, Demokratien rechnen eben nicht damit, dass es so etwas wie DEN Willen DES Volkes überhaupt gibt bzw. dass dieser unabhängig von einem längeren Diskussionsprozess schon einfach so vorhanden wäre. Prozeduren sollen außerdem dafür sorgen, dass fachliche Expertise in die Entscheidungsfindung einfließt, die die Urteilskraft von Nicht-Fachleuten übersteigt.
Populismus könnte man nun verstehen als Protest bestimmter Teile der Bevölkerung im Namen des Prinzips der Volksherrschaft gegen die gerade genannten Einschränkungen dieses Prinzips. Dieser Protest beruht allerdings auf einer Reihe von Irrtümern: Demokratie ist nämlich keine „Diktatur der Mehrheit“ und schon gar nicht die „Diktatur eines Menschen im Namen des Volkes“. Die Rechte und Freiheiten des Einzelnen, insbesondere die Rechte von Minderheiten und Menschen, die eine abweichende Meinung vertreten, dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat nicht durch Mehrheitsbeschluss beseitigt werden.
Gleichzeitig ist aber auch das rigide Beharren auf bestimmten vermeintlichen Freiheiten („mein Recht auf meine Ölheizung“) unter Umständen undemokratisch. Gerade wenn der Staat die Aufgabe hat, die Freiheit seiner Bürger zu schützen, muss er der Freiheit der Einzelnen auch Grenzen setzen, ohne dessen grundlegenden Rechte aufzuheben. Meine persönliche Freiheit endet nämlich, wie Kant zurecht schreibt, immer dort, wo die gleichumfängliche Freiheit der anderen beginnt. Meine Freiheitsausübung darf die der anderen nicht einschränken. Praktisch gesprochen gibt es z.B. kein Recht auf einen CO2-Ausstoß, der die Lebenschancen künftiger Generationen stark beschränkt. Hier vernünftige Grenzen zu ziehen, ist Aufgabe demokratischer Entscheidungsfindung.
Diese politische Aufgabe kann sich auf den von Frankl immer wieder betonten Grundsatz berufen, dass Freiheit und Verantwortung notwendig zusammengehören: Auf eine Freiheit zu beharren, die anderen schadet, ist mit einer wert- und sinnorientierten Lebensführung unvereinbar. Und damit kommen wir zum Hauptgrund, warum der Geist der Logotherapie mit rechtspopulistischem Gedankengut inkompatibel ist. Der Respekt vor der Freiheit des anderen gründet nämlich in derselben Voraussetzung, die auch dem Akt der Selbsttranszendenz in der Begegnung mit anderen Menschen zugrunde liegt. Eine solche Überwindung der persönlichen Egozentrik ist nur deswegen geboten und nur deswegen sinnvoll, weil mir im anderen ein Wesen mit einer unendlichen Würde gegenübersteht, dessen Wohlergehen und freie Entfaltung zu respektieren und zu unterstützen sich mir als Aufgabe aufdrängt. Eine solche Haltung ist mit der Verächtlichmachung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Glaubens nicht vereinbar. Daher widerspricht die gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit, die von Rechtspopulisten an den Tag gelegt wird, dem Geist der Logotherapie und den Grundvoraussetzungen logotherapeutischer Praxis.
Nun mag man einwenden, dass die Unterstützung anderer Menschen irgendwo auch eine Grenze haben müsse. Rechtspopulistische Parteien antworteten, so der Einwand, doch darauf, dass westliche Gesellschaften durch den Zuzug von Migranten und Flüchtlingen in ihrer Stabilität und kulturellen Eigenheit bedroht seien. Außerdem, so ein möglicher Einwand, habe man es mit den Rechten von Minderheiten in den letzten Jahren doch etwas übertrieben. Man müsse die Mehrheitsgesellschaft gegen übertriebene Ansprüche von Minderheiten schützen. Ohne diese Punkte im Einzelnen diskutieren zu können, möchte ich diesem Einwand mit einer Frage begegnen: Sind Rechtspopulisten, wenn sie diese Punkte vorbringen, geistig und emotional an Werten orientiert oder sind sie von Angst vor dem Fremden, Abscheu gegen Minderheiten und Ressentiment getrieben? Wer z.B. von „Messermännern“ und „Kopftuchmädchen“ spricht, der weist nicht einfach auf Integrationsprobleme hin, die vielleicht allzu lange nicht angegangen wurden. Wer so spricht, dem geht es auch nicht darum, die Forderung nach einer weiteren Begrenzung der Einwanderung rational zu begründen. Wer sich so ausdrückt, der versucht vielmehr Emotionen zu wecken, die über die Liebe zum Eigenen oder über die echte Besorgnis über bestimmte Folgen von Migration weit hinausgehen. Wer so redet, schürt Angst, Ressentiment und Hass. Wer derartige Ausdrücke verwendet, den wird es auch nicht stören, wenn in hämischer Weise die Abschiebung von Menschen besungen wird. Und er wird unter Umständen auch nicht davor zurückschrecken, Migranten ohne Prozess öffentlich als Verbrecher vorzuführen und in einen autoritär regierten Drittstaat abzuschieben, wo diese dann unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt werden, wie das gerade in den USA geschieht. Der Kontrast zum Geist der Logotherapie könnte nicht größer sein, gründet diese doch, wie ausgeführt, in einer Haltung des Respekts vor jedem Menschen und in einer Wertorientierung, die emotional von Gefühlen wie Liebe, Mitgefühl und Wohlwollen getragen wird. Diese Haltung schließt politische Maßnahmen zur Begrenzung von Migration nicht aus. Diese werden aber ohne Verächtlichmachung anderer Menschen mit Blick auf positive Werte begründet.
Im Geiste Viktor Frankls zu leben und zu arbeiten, ist also unvereinbar mit der Unterstützung rechtspopulistischer Parteien.
Dr. Phil. Oliver Florig ist u.a. Logotherapeut DGLE® und Systemischer Therapeut und Berater (SG). Er unterstützt Einzelpersonen und Paare mit seinem vielfältigen Therapieangebot, Sinncoaching, Aufstellungsarbeit und philosophischer Beratung in seinen Praxen in Kempten und Heidelberg.
Er ist Autor der Bücher „Jenseits der Masken: Ideen und Übungen für ein authentisches und selbstbestimmtes Leben“ (erschienen 2021) und „Lebenssinn und Sinnverlust in Therapie und Beratung: Anregungen aus der Logotherapie bei Umbruch, Lebenskrise, Schicksalsschlag“ (erschienen 2024, beide im Springer Verlag). Erhältlich im Buchhandel.
Homepage: https://oliver-florig.de/