Skip to content

Streitkultur und der Sinn des Wir (September 2021)

Gewiss gehört zur Demokratie das Miteinander-streiten-Können. Gewiss lebt die liberale Demokratie von der Vielfalt der Meinungen und Ansichten. Doch mehr als gewiss sind bestimmte Normen und „Spielregeln“, die den (manchmal allzu) subjektiven Meinungen einzelner Parteien bzw. deren Vertretern vorausliegen. Diese aber lassen sich bündeln in dem, was ich hier als den Sinn des Wir bezeichne. Und mit WIR meine ich uns alle in Europa, einschließlich den Umgang mit aggressiven und illiberalen Kräften (wie in Russland, Polen, Ungarn), denen es irgendwie nicht „schmecken“ will, dass die bisherigen 30 Jahre EU-Geschichte (seit 1991 gerechnet) im Kern eine Erfolgsgeschichte war und ist, trotz aller Krisen und Erschütterungen, die wir spürten und heute ganz besonders intensiv spüren.

Es ist zutiefst in der menschlichen Natur begründet, dass alle, die nach gleichem Ziele trachten, sich zusammentun und eine Vereinigung – eine Partei, einen Verbund, eine Stiftung usw. – gründen. Denn: „Was Einzelwille nie bewirken könnte, wird durch die Sammlung vieler Willen oftmals doch noch Wirklichkeit, und eigene Überzeugung findet Selbstgenuss, wenn sie der gleichen Überzeugung auch in Anderen begegnet“ (Bô Yin Râ). Es waren die vielen Einzelwillen, die damals, im November 1989, die Berliner Mauer (1961–1989) zum Einsturz gebracht haben, wobei, und das ist hier wichtig, Michail Gorbatschow die Sammlung vieler Willen in Richtung „Freiheit und Vereinigung“ unterstützt hat. – Auch heute, kurz vor der Bundestagswahl, hört man die Äußerung vieler Einzelwillen, dass die Gefahr des Klimawandels abgewehrt werden sollte; oder dass die NATO mehr Selbstständigkeit (mehr Unabhängigkeit von den USA) erreichen sollte; oder dass wir den Kindern viel mehr Aufmerksamkeit, Fürsorge und Liebe schenken sollten, falls wir in der nahen und fernen Zukunft bessere, humanere Menschen auf Erden haben wollen, die das Geheimnis der Schöpfung und die Ehrfurcht vor der Schöpfung deutlicher in sich tragen als wir Heutigen. Und so gesehen, ist es nicht widersinnig, „wenn mancherlei Vereinigung sich bildet, um jeweils anderem Ziele zuzustreben, und reiches Leben kann aus solcher Vielheit sich erheben, trachtet sie danach, die Einzelkörperschaften wieder in Vereinigung zu fassen: einem Ziele zugewandt, das aller einzelner Parteiung sonderliche Ziele überragt“ (Bô Yin Râ). Dasjenige aber, was aller Parteiung Sonderziele überragt und transzendiert und diejenige Geistes-Kraft, die einer oft heillosen Parteisucht Einhalt gebieten kann, ist der „Logos, der im Anfang ist“ und der dem Wollen – und den vielen Einzelwillen – vorausliegt. Diesen johanneischen Satz konkretisierend, könnte man sagen: Die bisherigen Spielregeln der EU und die wenigen verbindlichen Normen, welche die EU sich selbst gesetzt bzw. welche sie entdeckt und anerkannt hat, bilden denjenigen Logos (als das Geistige und den Sinn), der einzelne Sonderziele überragt. Demnach ist es nicht allzu schwer, ein solches transnationales Sinn-Ziel auszumachen, „wird es nur dort gesucht, wo aller Wohl es finden lehrt.“ Ist es einmal gefunden und vor aller Sonderzielen erreicht bzw. realisiert, so muss auch dieses Sinn-Ziel gesichert werden. Konkret gesprochen: Die EU hat mancherlei Sonderziele schon erreicht – worüber weiterhin noch und oft unsinnigerweise gestritten wird –, doch es gehört als ein nächster Schritt eine „Vereinigung der Vereinigungen“ dazu, welche das bisher halbwegs Erreichte dauerhaft sichern und zur Erfüllung bringen könnte. Im sozialpolitischen und sozialethischen Kontext gedacht, wäre eine solche „Vereinigung der Vereinigungen“ eine Europäische Verfassung. So wie in Deutschland das Grundgesetz alle Parteien verpflichtet, so kann und soll, – hoffentlich bald, – eine Europäische Verfassung alle EU-Länder verbindlich verpflichten, das transnationale Sinn-Ziel jenseits aller nationalen Sonderzielen genau vor Augen zu halten und zu respektieren. Die hierzu notwendige Streitkultur setzt voraus, dass die Einzelwillen (die einzelnen europäischen Regierungen und deren Vertreter) diesen Logos – diesen Sinn des Wir, – der dem Wollen (und den Einzelwillen) vorausliegt, anerkennen. Es ist schäbig, kurzsichtig und primitiv, wenn bestimmte Leute in der AfD den Austritt Deutschlands aus der EU fordern; wenn bestimmte Leute in Ungarn eine „illiberale Demokratie“ propagieren (welche in Wahrheit eine Autokratie ist); wenn bestimmte Leute in Polen die Unabhängigkeit der Justiz zerstören, und wenn verschiedene Leute in verschiedenen EU-Ländern immer noch den Hass auf das Fremde (und die hypertrophierte Überbetonung des Nationalen bzw. des Nationalistischen) hervorheben. Nicht weniger kurzsichtig ist es, wenn die EU nicht energischer und klarer gegenüber solchen Strebungen Grenzen zieht – durch Nicht-Ausbezahlung von Geldern. Diese Schwäche des zuständigen EU-Gremiums wird sich noch rächen.

 Der Sinn des Wir verlangt danach, bestimmte Spielregeln und Normen sehr ernst zu nehmen und zu respektieren. Gemeint sind, in Kürze, die folgenden liberal-demokratische Normen:

Alle Menschen haben bestimmte unveräußerliche Grundrechte. ● Die Mechanismen der Gewalteinteilung innerhalb des Staates (Legislative, Judikative, Exekutive) und die Herrschaft des Rechts (das Prinzip und die Realität des Rechtsstaates) führen den Primat. ● Eine vom Staat unterschiedene freiheitliche und die persönliche Verantwortung bejahende Gesellschaft mit einer sozialen Marktordnung (mit einer sozialen Marktwirtschaft, welche auch dem Schutz des ökologischen Gleichgewichts Priorität einräumt), ist vorzuziehen und zu verteidigen. ● Die internationale Zusammenarbeit – z.B. durch den Welthandel, durch den kulturellen Austausch, durch Nichtausbeutung der natürlich-ökologischen Ressourcen, durch koordinierte Maßnahmen bezüglich Frieden in der ganzen Welt und Abwendung der Gefahr des Klimawandels – wird als Notwendigkeit erkannt und in allen (politischen, wirtschaftlichen, sozialethischen) Handlungen konkret berücksichtigt. ● Langfristig ist als eine Sollensnotwendigkeit die Geistes-Einsicht in vielen Einzelnen lebendig zu halten, dass ein (dritter) Weltkrieg gar keine Lösung, sondern den „Untergang des Abendlandes“ und der Zivilisation auf Erden bedeuten würde. ● Die Sammlung vieler Einzelwillen in Richtung des Logos, der im Anfang ist und ihre Zentrierung um diesen Logos herum, stellt diejenige (östliche wie westliche) spirituelle Lehre dar, welche zu konkretisieren ist durch Unterricht, Seminare, Meditation, Gebet, beginnend in der Grundschule und bis zu den Hochschulen in allen Ländern. (Lao-Tse sprach vom TAO als das Wesen des ungetrennten Seins).

All diese aus westlicher Sicht formulierten Normen umhüllt und überwölbt letztendlich ein Wahr-Bild des Menschen, dessen Charakter als universal zu bezeichnen ist: Ein jeder Mensch dieser Erde kommt aus demselben, transzendenten Ur-Grund – aus dem Ewigen Licht – und strebt dorthin zurück, und zwar ein jeder auf seine Weise und auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, auf der er sich befindet. Nur die „Geduld der Heiligen“ lässt die Erkenntnis keimen, „das dem etwa Irrenden“ [dem Terroristen, dem Islamisten, dem Dschihadisten, dem Rechts- und Linksextremisten, dem Supernationalisten und dem Judenhasser usw.] „nur dann geholfen werden kann, wenn der Irrende selbst schon seines Irrtums in sich selbst kundig wurde“ (Bô Yin Râ). In dem Anderen immer nur den Feind zu sehen – statt in ihm, wie im Schachspiel, den Gegner zu gewahren, der zum „Spiel“ dazugehört – wird nur weitere Zersetzung und Zersplitterung bewirken. Dabei könnte nur die kontinuierliche Sammlung aller Einzelmeinung irgendwann wahre Werte zutage fördern und genau diese Art der geistigen Sammlung wird durch eine sinnorientierte und sinnzentrierte Streitkultur ermöglicht, welche zwar die Einzelmeinungen respektiert, aber zugleich der Wahrheit und den Wahrheiten die Ehre gibt. Was es dann noch fühlend zu begreifen gilt, ist ein Spruch des chinesischen Weisheitslehrers Lao-Tse: Wahrheit ohne Liebe macht kritiksüchtig. Würden wir zumindest in der EU die Kraft dieser spirituellen Sentenz in uns auswirken lassen, würden wir zwar langsam, aber sicher weitere Spaltungen verhüten. Mehr denn je brauchen wir in der EU den geistgeborenen Sinn für Sammlung – die Ausrichtung auf den Sinn des Wir. (O. Zs.)


An den Anfang scrollen