Selbsterkenntnis (Raimund Schöll I Oktober 2024)
„Die Selbsterkenntnis ist nicht das Ziel, sondern ein Mittel. Nur wer die eigenen Stärken kennt, sie entwickelt und auf ihnen aufbaut, hat die Chance, ein erfülltes Leben zu leben“
(Psychologe und Motivationsforscher Mihály Csíkszentmihályi)
Im Kern fordert die Selbsterkenntnis dazu auf, sich nicht nur in Äußerlichkeiten und bloßen Worten zu verlieren, sondern sich stattdessen um die eigene Grundhaltung zu kümmern und die eigene Lebensführung, das heißt, sein Tun und Lassen, das einen im Innersten bestimmt, sorgfältig in den Blick zu nehmen.
Es fällt auf, dass viele Menschen zumindest den Anschein geben, lieber einen großen Bogen um sich selbst zu machen, geschweige denn, dass sie einen bewussten Umgang mit sich selber suchen. Man kann nur darüber spekulieren, woran das liegt.
Ist es Faulheit oder Unlust, weil man die Selbsterkenntnis für zu beschwerlich oder für altmodisch hält, oder ist es die Angst vor den eigenen Untiefen, die ja der Psychoanalytiker gern in Aussicht stellt, wenn es um die eigene Selbsterkenntnis geht? Oder liegt es an der dominierenden Weltanschauung des Materialismus, der bekanntlich nur gelten lassen will, was man anfassen, messen oder mit Zahlen belegen kann?
Die Frage, ob es überhaupt ein Selbst oder Inneres, einen inneren geistigen Kern im Menschen gibt, ist ja eine Frage, über die von Fachleuten unterschiedlicher Provenienz schon seit Jahrzehnten tatsächlich erbittert gestritten wird. Fest steht: Man kann diesen Kern nicht sehen.
Ich habe mir angewöhnt, dieses sensible Thema der Selbsterkenntnis in meiner Eigenschaft als Logotherapeut, Coach und Paarberater sensibel anzupacken. Den Weg der Selbsterkenntnis kann man niemandem aufdrängen, wenn die Zeit dafür noch nicht reif ist.
Bevor sich jemand auf den Weg der Selbsterkenntnis begibt, könnte er sich also mit folgenden selbstkritischen Grundfragen selbst befragen:
- Bin ich jetzt in diesem Moment, in dieser Lebensphase grundsätzlich bereit, mich selbst besser kennenzulernen, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen?
- Will ich das Verstehen meiner Selbst in Zukunft als Teil meines Lebens verstehen?
- Oder exkludiere ich jeden Gedanken an mich selbst lieber und umschiffe jedes weitere Nachdenken darüber?
- Bin ich bereit, an mir zu wachsen?
- Habe ich den Mut, mich meinen Stärken, aber auch meiner Unvollkommenheit zu stellen?
- Will ich, dass mein Lebenspartner, darüber etwas erfährt?
Entdecken statt Aufdecken oder Entlarven
Viktor E. Frankl sagt, in der psychologischen und logotherapeutischen Arbeit mit Menschen gehe es in erster Linie nicht um ein Aufdecken oder Entlarven, sondern um ein Entdecken. So ist auch die eigene Selbsterkenntnis eine Entdeckungsreise und weniger ein Ertauchen von finsteren Geheimnissen in der Tiefsee, um es metaphorisch auszudrücken. Diese Entdeckungsreise kann sehr spannend und beglückend, hin und wieder auch schmerzhaft sein.
Die eigene Selbsterkenntnis kann sich auf die Vergangenheit beziehen, aber auch auf die Gegenwart oder auf die Zukunft. Die Selbsterkenntnis ist ein Prozess, der, wenn man es will, nie aufhört im Leben, man kann die eigene Selbsterkenntnis nicht einfach zuschlagen wie ein fertig gelesenes Buch.
Einen Fragenkatalog zur Selbsterkenntnis finden Sie in meinem 2024 erschienen Buch „Erkennen, was möglich ist: Existenzielles Selbstcoaching„. Der Katalog bietet eine Auswahl, die weitergeführt werden kann. Eine interessante Übung der Sinn-Lebenskunst wäre, wenn Sie, der sich in Selbsterkenntnis üben möchte, noch weitere Fragen für sich finden. Es bietet sich an, sich mit jeder ausgewählten Frage eine Zeit lang zu beschäftigen, sie mit sich herumzutragen, sie in das tägliche Leben zu integrieren. Aus Erfahrung ein spannender Prozess
Eine andere Form der Selbsterkenntnis, die sich anbietet, ist, sich mit unterschiedlichen Persönlichkeitsmodellen zu befassen. Gerade für Menschen, die einen sicheren Ausgangspunkt suchen, bietet sich ein solches Vorgehen an. Für eine strukturiertere Form der eigenen Erkenntnis stehen zahlreiche Modelle und Konzepte zur Verfügung, die sich mit Charakter und Persönlichkeit beschäftigen. Unter anderem zähle ich dazu das Persönlichkeitsmodell der Big Five. Eine andere Variante bietet das Enneagramm. Ich arbeite mit beiden und habe damit gute Erfahrungen gemacht.
Zum Autor
Raimund Schöll ist zertifizierter Logotherapeut DGLE®, systemischer Coach, Paarberater und Organisationsentwickler in den Schwerpunktbereichen Krisenbegleitung, Führung, Beziehungsklärung, Konfliktmanagement und Persönlichkeitsentwicklung. Zusammen mit seiner Frau arbeitet er in seiner Praxis für Logotherapie & Existenzanalyse Paarberatung und Coaching in Gilching bei München.
Mehr zum Thema erfahren Sie in Raimund Schölls Vortrag „Eine Portion Glück bitte. Kann man Optimismus lernen?“ am 24. November 2024 hier bei uns im Süddeutschen Institut für Logotherapie & Existenzanalyse.