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Was einen guten Logotherapeuten ausmacht

Selbsteinschätzung

Er ist zunächst und grundsätzlich ein normaler Mensch, der sich in Fragen der Persönlichkeitspsychologie gut auskennt, aber nicht dazu neigt, sich zu überschätzen.

Wirklichkeit

Er steht auf dem Boden der Wirklichkeit und ist zugleich Pessimist wie Optimist. Das heißt: er glaubt an das Gute im Menschen, bejaht die heile geistige Person, weiß aber um des Menschen Hinfälligkeit.

Schmerz

Sie, die gute Logotherapeutin, ist sich bewusst: »Nicht jeder Schmerz ist psychosomatisch, nicht jede Depression ist noogen und nicht jeder psychisch Kranke hat Sinnlosigkeitsprobleme«. Darum ist sie bemüht, alle Ursachen und Fakten zu erforschen, die ein gewisses Krankheitsbild umge­ben, um einer wahren Interpretation des »Sachverhaltes« (des leidenden Menschen) zu dienen. Das heißt: Wo auch die entfernteste Möglichkeit besteht, dass auch andere Faktoren [z.B. schwere Kindheit, starke Per­sönlichkeitsstörung usw.] eine Rolle spielen, dort dürfen Sinnfrustration und Motivationsschwäche nicht als alleinige Ursache in den Mittelpunkt der Sachinterpretation gestellt werden. E. Lukas wörtlich: »Bei tiefge­henden psychischen Störungen, die eng mit der Persönlichkeitsstruktur [oder der Lebensgeschichte] des Patienten verknüpft sind, darf auch der Logotherapeut nicht einfach die rosa Brille aufsetzen und einen schnellen Heilungserfolg hervorsagen, geschweige denn versprechen!«

Chancen

Der gute Logotherapeut übersieht Ursachen, Fehler und Krankheitsabhängigkeiten nicht, aber ihn kennzeichnet der Glaube an die trotzdem bestehende Gesundungschance, denn im Sinne des »psychotherapeuti­schen Credo« trifft es zu: Bis zum letzten Atemzug hat ein jeder Mensch die Möglichkeit, sein Leben aus eigener Kraft zu ändern, zu verbessern, mit Sinn zu erfüllen oder es – mit dem Gewordenen versöhnt – anzunehmen.

Zuhören

Der Logotherapeut hört auf seine Patienten, er hört dem einzelnen und unverwechselbaren homo patiens zu, er lässt sich auf ihn ein; er gibt und nimmt. Hellhörig sein, lauschen, auch das unbeholfen Mitgeteilte mit dem Herzen erfühlend verstehen, ist für ihn sehr wichtig.

Ursachen erforschen

Der gute Logotherapeut muss Ursachen erforschen, aber sie auch be­wusst ignorieren können, vor allem dann, wenn sie nicht zu ändern sind und ihre Kenntnis mehr Schaden als Nutzen bringt. »Es gibt Zusammenhänge, die besser ruhen, denn wenn man sie zu sehr ans Licht des Be­wusstseins zerrt, dann hemmen sie die gesunde Trotzmacht des Geistes, die solchen Zusammenhängen entgegensteht«. Andererseits gibt es tatsächlich einzelne Situationen, bei denen eine kürzere oder längere Analyse der Ursachen unerlässlich ist, will man in dem jeweiligen Einzelfall weiterkommen. Dies ist dann gegeben, wenn Kriegskinder, deren Kinder und Enkelkinder verstehen wollen, was früher in der NS-Zeit geschehen ist.

Resilienz

Der gute Logotherapeut lehrt den Patienten, Vermeidbares und Unver­meidbares zu unterscheiden; das Unveränderbare zu erdulden, und dort, wo Ursachen veränderbar sind, lehrt er ihn, dem veränderbaren »Schicksal« zu trotzen bzw. es zu gestalten. – Nebenbei sei hier rasch angeführt: Was man heute mit dem Wort »Resilienz« meint, ist der Sache nach in der Logotherapie längst bekannt.

Wertesystem

Der gute Logotherapeut muss ein eigenes, breit angelegtes Wertesystem besitzen, aber er muss jedes fremde Wertesystem voll anerkennen. Ihm geht es weniger um Streit über bestimmte Begriffe (z.B. der Teufel, das Böse, die Krankheit, das Unheil usw.), als vielmehr um die konkrete Hilfe für die ihm anvertrauten Menschen. Darum sucht er den sinnvollen Kompromiss und die Brücke zu dem ihm fremden Wertsystem. Er freut sich, wenn ihm eine Intervention gelingt, doch muss er zugleich »jeden Miss­erfolg überdenken, und darf nicht jeden Erfolg für sich buchen!«

Ringen um den Sinn

Der Logotherapeut muss u. U. sein eigenes Ringen um Sinn bekennen und doch eine gewisse, tragende Sinnerfüllung empfindungsbewusst besitzen. Sicher bleiben wir, auch wir Logotherapeuten, immer wieder Suchende, und oft sind wir auch selbst »verletzte Menschen«. Warum sollten wir uns schämen, dies einzugestehen! Das ist das eine. In anderer Hinsicht, in manchen prinzipiellen Bereichen sind wir, auch wir Logothe­rapeuten, zum Finder geworden. Warum sollten wir das verschweigen? Gewiss: Wir dürfen und müssen nicht immer die [oder unsere] Wahrheit sagen, dennoch muss unsere Aussage immer echt bleiben, in dem Sinn echt, dass wir voll hinter ihr stehen.

Weiterlernen

Der gute Logotherapeut schließlich – der eine fundierte Ausbildung, mitgebrachte Begabung und viel Erfahrung hat – darf und soll sich bewusst bleiben, dass er ein Weiter-Lernender ist, der aus jeder Situation, aus jedem Gespräch etwas dazu lernen kann.

Bedenkt und erfühlt man das Gesagte, sieht man unmittelbar ein: Sowohl der Dozent für Logotherapie als auch der Studierende sind im hohen Maße herausgefordert, sich mit allen Erkenntniskräften – mit Verstand und Herz, mit Seele und Geist – dem oben charakterisierten »Stoff« zu widmen, der mit uns allen – dem Menschsein schlechthin – zu tun hat.

Ziel der gesamten Ausbildung sollte sein, das bisher Gewusste und Erfahrene organisch weiter auszubauen, auszudifferenzieren und geistig sowie emotional in sich selbst und für sich selbst zu integrieren. Unmittelbar danach soll die Einübung in die Praxis erfolgen.

Es empfiehlt sich, schon während der Ausbildung in den ganz normalen Gesprächen, die man mit den Mitmenschen führt, auf die Sinn- und Wertproblematik hinzuhören. Denn oft verbergen sich hinter Symptomen existenzielle Fragen, auf die wir tragfähige Antworten suchen.

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