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Was eine gute Logotherapeutin bzw. einen guten Logotherapeuten ausmacht (März 2021)

Selbsteinschätzung

Sie bzw. er ist zunächst und grundsätzlich ein normaler Mensch, die/der sich in Fragen der Persönlichkeitspsychologie gut auskennt, aber nicht dazu neigt, sich zu überschätzen.

Wirklichkeit

Sie bzw. er steht auf dem Boden der Wirklichkeit und ist zugleich Pessimistin/Pessimist wie Optimistin/Optimist. Das heißt: sie bzw. er glaubt an das Gute im Menschen, bejaht die heile geistige Person, weiß aber um des Menschen Hinfälligkeit.

Schmerz

Sie (die gute Logotherapeutin) bzw. er (der gute Logotherapeut) ist sich bewusst: »Nicht jeder Schmerz ist psychosomatisch, nicht jede Depression ist noogen und nicht jeder psychisch Kranke hat Sinnlosigkeitsprobleme«. Darum ist sie bzw. er bemüht, alle Ursachen und Fakten zu erforschen, die ein gewisses Krankheitsbild umge­ben, um einer wahren Interpretation des »Sachverhaltes« (des leidenden Menschen) zu dienen. Das heißt: Wo auch die entfernteste Möglichkeit besteht, dass auch andere Faktoren [z.B. schwere Kindheit, starke Per­sönlichkeitsstörung usw.] eine Rolle spielen, dort dürfen Sinnfrustration und Motivationsschwäche nicht als alleinige Ursache in den Mittelpunkt der Sachinterpretation gestellt werden. E. Lukas wörtlich: »Bei tiefge­henden psychischen Störungen, die eng mit der Persönlichkeitsstruktur [oder der Lebensgeschichte] des Patienten verknüpft sind, darf auch der Logotherapeut nicht einfach die rosa Brille aufsetzen und einen schnellen Heilungserfolg hervorsagen, geschweige denn versprechen!«

Chancen

Die gute Logotherapeutin bzw. der gute Logotherapeut übersieht Ursachen, Fehler und Krankheitsabhängigkeiten nicht, aber sie bzw. ihn kennzeichnet der Glaube an die trotzdem bestehende Gesundungschance, denn im Sinne des »psychotherapeuti­schen Credo« trifft es zu: Bis zum letzten Atemzug hat ein jeder Mensch die Möglichkeit, sein Leben aus eigener Kraft zu ändern, zu verbessern, mit Sinn zu erfüllen oder es – mit dem Gewordenen versöhnt – anzunehmen.

Zuhören

Die Logotherapeutin bzw. der Logotherapeut hört auf ihre/seine Patient*innen, hört dem einzelnen und unverwechselbaren homo patiens zu, lässt sich auf ihn ein; gibt und nimmt. Hellhörig sein, lauschen, auch das unbeholfen Mitgeteilte mit dem Herzen erfühlend verstehen, ist für sie bzw. ihn sehr wichtig.

Ursachen erforschen

Die gute Logotherapeutin bzw. der gute Logotherapeut muss Ursachen erforschen, aber sie auch be­wusst ignorieren können, vor allem dann, wenn sie nicht zu ändern sind und ihre Kenntnis mehr Schaden als Nutzen bringt. »Es gibt Zusammenhänge, die besser ruhen, denn wenn man sie zu sehr ans Licht des Be­wusstseins zerrt, dann hemmen sie die gesunde Trotzmacht des Geistes, die solchen Zusammenhängen entgegensteht«. Andererseits gibt es tatsächlich einzelne Situationen, bei denen eine kürzere oder längere Analyse der Ursachen unerlässlich ist, will man in dem jeweiligen Einzelfall weiterkommen. Dies ist dann gegeben, wenn Kriegskinder, deren Kinder und Enkelkinder verstehen wollen, was früher in der NS-Zeit geschehen ist.

Resilienz

Die gute Logotherapeutin bzw. der gute Logotherapeut lehrt die Patient*innen, Vermeidbares und Unver­meidbares zu unterscheiden; das Unveränderbare zu erdulden, und dort, wo Ursachen veränderbar sind, dem veränderbaren »Schicksal« zu trotzen bzw. es zu gestalten. – Nebenbei sei hier angeführt: Was man heute mit dem Wort »Resilienz« meint, ist der Sache nach in der Logotherapie längst bekannt.

Wertesystem

Die gute Logotherapeutin bzw. der gute Logotherapeut muss ein eigenes, breit angelegtes Wertesystem besitzen, muss jedoch jedes fremde Wertesystem voll anerkennen. Ihr bzw. ihm geht es weniger um Streit über bestimmte Begriffe (z.B. der Teufel, das Böse, die Krankheit, das Unheil), als vielmehr um die konkrete Hilfe für die ihr bzw. ihm anvertrauten Menschen. Darum sucht sie bzw. er den sinnvollen Kompromiss und die Brücke zu dem ihr bzw. ihm fremden Wertsystem. Sie bzw. er freut sich, wenn eine Intervention gelingt, überdenkt zugleich »jeden Miss­erfolg und darf nicht jeden Erfolg für sich buchen!«

Ringen um den Sinn

Die Logotherapeutin bzw. der Logotherapeut muss u. U. ihr bzw. sein eigenes Ringen um Sinn bekennen und doch eine gewisse, tragende Sinnerfüllung empfindungsbewusst besitzen. Sicher bleiben wir, auch wir Logotherapeut*innen, immer wieder Suchende, und oft sind wir auch selbst »verletzte Menschen«. Warum sollten wir uns schämen, dies einzugestehen! Das ist das eine. In anderer Hinsicht, in manchen prinzipiellen Bereichen sind wir, auch wir Logothe­rapeut*innen, zu Findernden geworden. Warum sollten wir das verschweigen? Gewiss: Wir dürfen und müssen nicht immer die [oder unsere] Wahrheit sagen, dennoch muss unsere Aussage immer echt bleiben, in dem Sinn echt, dass wir voll hinter ihr stehen.

Weiterlernen

Die gute Logotherapeutin / der gute Logotherapeut schließlich – die bzw. der eine fundierte Ausbildung, mitgebrachte Begabung und viel Erfahrung hat – darf und soll sich bewusst bleiben, dass sie Weiter-Lernende sind, die aus jeder Situation, aus jedem Gespräch etwas dazu lernen können.

Bedenkt und erfühlt man das Gesagte, sieht man unmittelbar ein: Sowohl Dozierende für Logotherapie als auch Studierende sind im hohen Maße herausgefordert, sich mit allen Erkenntniskräften – mit Verstand und Herz, mit Seele und Geist – dem oben charakterisierten »Stoff« zu widmen, der mit uns allen – dem Menschsein schlechthin – zu tun hat.

Ziel der gesamten Ausbildung sollte sein, das bisher Gewusste und Erfahrene organisch weiter auszubauen, auszudifferenzieren und geistig sowie emotional in sich selbst und für sich selbst zu integrieren. Unmittelbar danach soll die Einübung in die Praxis erfolgen.

Es empfiehlt sich, schon während der Ausbildung in den ganz normalen Gesprächen, die man mit den Mitmenschen führt, auf die Sinn- und Wertproblematik hinzuhören. Denn oft verbergen sich hinter Symptomen existenzielle Fragen, auf die wir tragfähige Antworten suchen.

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