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Grund, Gründe und Ursachen (März 2022)

Vorbemerkungen: Am achten Tag des rational, politisch, wirtschaftlich, moralisch, philosophisch nicht zu rechtfertigenden Angriffskrieges gegen die Ukraine, zugleich auch gegen die Werte, welche die EU (deutlich in der Theorie, weniger deutlich in ihrer Praxis) verkörpert, werden im Folgenden die oben genannten Begriffe reflektiert und erfühlt. Dabei stütze ich mich auf den sinnzentrierten Ansatz von Viktor Frankl und auf einige Thesen von Elisabeth Lukas, (in: Geist und Sinn. Logotherapie – die dritte Wiener Schule der Psychotherapie, München 1990, S. 92-96), welche die Entscheidungsfähigkeit des Menschen betreffen. Das Wort Grund (Singular!) soll hier mit Bezug auf den Menschen verstanden werden als der allererste Ausgangspunkt seiner Handlungen. Das Wort Gründe (Plural!) soll verstanden werden in dem Sinne solcher Sätze, wie: „Ich habe meine Gründe, mich friedlich oder aggressiv, wertschätzend, verständnisvoll oder andere entwertend, feindlich und kriegerisch zu verhalten“. Oder: „Ich habe meine Gründe, wieso und warum ich meine Partnerschaft auflöse“. Diese eher psychologische Bedeutungssphäre des Wortes „Gründe“ mündet in die Sphäre der „Ursachen“ ein, so dass man die Begriffe „Gründe“ und „Ursachen“ durchaus nahe beieinander auffassen kann. Schließlich: Ursache und Wirkung sind korrelative Begriffe. Das heißt: Keine Ursache ohne Wirkung und umgekehrt. Die Realität, einschließlich die Realität der menschlichen Geschichte als einen Wirkungszusammenhang aufzufassen, wird in der deutschen Sprache schon durch das Wort „Wirklichkeit“ nahegelegt. Fallweise stellt die zeitliche Priorität der oder einer „Ur-Sache“ die mehr oder weniger klare Erklärung für bestimmte Wirkungen dar, die wir Menschen des 21. Jahrhunderts in Europa und außerhalb Europas sehr genau spüren und identifizieren können. Man kann „innere Ursachen“ (Charakterstruktur eines Menschen, seine bemerkenswerte Weitsicht oder seine ideologische Befangenheit) von „äußeren Ursachen“ (geopolitische, historische, wirtschaftliche usw. Faktoren) unterscheiden. Und man muss noch einmal, sehr sorgfältig, den Grund von der Ursache unterscheiden. Nun aber komme ich zu den angedeuteten Thesen der sinnzentrierten Psychotherapie.

Erste These: „Menschliche Entscheidungen sind nicht (restlos) erklärbare, freie Willensakte.“ Denn, so heißt es bei Frankl: Der Mensch sei dasjenige Wesen, „das in jedem Augenblick entscheidet, was es im nächsten Augen­blick sein wird.“ – Dieser Ansatz kollidiert mit allen Theo­rien, die den Menschen nur als Sozialprodukt oder ausschließlich als Spielball bio-psychologischer oder politischer Kräfte und Konstellationen betrach­ten. Das ist das eine. Damit ist, mit Blick auf die dunkle Krise und auf den Krieg Putins gegen die Ukraine, ausgesagt: Es wurden eine Reihe von Willensakten – durchaus frei – vollzogen, bevor die vom Kreml-Chef irreführend sogenannte „militärische Operation“ am 24. Februar 2022 eingeleitet wurde. In anderen Worten: Jemand hat Entscheidungen getroffen aus seinem freien Willensakt.

Das in der ersten These implizierte Menschenbild kündet von einem „ungeheuren Vertrauen zum Menschen, das das schwächste und stärkste Argument“ der sinnzentrierten Psychotherapie – Logotherapie und Existenzanalyse genannt – bildet (Lukas, S. 93). – Das schwächste insofern, als die geistige Frei­heit des Menschen als Fundament der Entscheidungsfähigkeit nach strengen naturwissenschaftli­chen Kriterien nicht zu beweisen ist. [Überhaupt gilt: Geist lässt sich nicht beweisen; er ist erlebbar und einem philoso­phisch-meditativen bzw. spirituellen Ansatz bzw. einer inwendigen Betrachtung zugänglich.] Andererseits gibt es in allen Zeiten „Zeugen der geistigen Freiheit“, also gereifte und reife Menschen, die unter schwierigsten Bedin­gungen ethisch wertvolle, heroische, sinnvolle und wertorientierte Entscheidungen treffen – dies tun zum Beispiel auch heute diejenigen Personen in Russland, die öffentlich für die Beendigung des Krieges protestieren. Freilich sind diese Men­schen, global betrachtet, in der Minorität. In der Majorität sehen wir, in nüchternen, statistischen Daten ausgedrückt, viele Men­schen, die sich von ihren nicht gelenkten Trieben, von übertriebenen Machtgelüsten, von Gier und Korruption, von der Großmannssucht leiten lassen und insofern mehr für die Unfreiheit des Menschen „Zeugnis“ ablegen. Freilich besitzen auch diese Menschen die geistige Freiheit, die sie aber in die verkehrte Richtung aktivieren. Auch dieser Aspekt gehört zur Realität des Menschen in diesem irdischen Kontext. Dennoch: Die Freiheit des Willens und somit das Vertrauen zum Men­schen in der psychotherapeutischen wie in der politischen Praxis ist das stärkste Argument, das den „leidenden Menschen“ aus seiner psychischen Störung oder Verstrickung befreien kann, wenn er selbst denn befreit werden will. Das Vertrauen in die Freiheit des Willens [nach dem Motto: „du kannst es, du schaffst es“] lockt aus dem homo patiens [bisher schlummernde] geistige Potenzen hervor, mit deren Hilfe er Krankheit und Leid, Krise und Verzweiflung zu überwinden vermag (vgl. Lukas, S. 93).
An dieser Stelle sind zwei Ergänzungen einzufügen:

(a) Freiheit im philosophisch relevanten Sinn und auf den Men­schen bezogen, bedeutet: die geistige Fähigkeit, über sich selbst zu entscheiden [bis zur Selbstzerstörung, bis zum Suizid hin], und als »ein Selbst« seinem Wollen eine Richtung zu geben: Selbst-Steuerung; Selbst-Lenkung; Selbst-Zentrierung. Genau das nennt man Willens­- oder Entscheidungsfreiheit. – Freiheit kann also definiert werden als die (bloß prinzipielle oder effektive) Fähigkeit, mich selbst für ein bestimm­tes (mir mögliches und als sinnvoll erlebtes) Verhalten oder dessen Unterlassung zu entscheiden. – Ich kann mich für dieses oder jenes Verhalten, für Tun oder Nicht-Tun, für Frieden oder Krieg, für Rache oder Versöhnung entscheiden. Diese Freiheit schließt a priori auch Verantwortlichkeit ein: Die Fähigkeit, Handlungen mir selbst zuzurechnen bzw. zuge­rechnet zu bekommen. Freiheit als prinzipielle Freiheit gehört zur Wesensausstattung jedes Men­schen, sie ist dem Menschen [dem menschlichen Geist] inhärent und begründet dessen Würde. Genauer: Die unbedingte Würde kommt der geistigen Person zu, die als ein Geistiges sowohl Freiheit als auch Verantwortung hat. Im konkreten Fall ist Freiheit als effektive Freiheit von manchen Bedingungen und Umständen abhängig und lässt offenbar verschiedene Grade zu: jemand ist mehr oder weniger frei, je nach Reife, je nach Traumatisierung, je nach Milieu (vgl. Gerd Haeffner, Lexikon der Erkenntnistheorie und Metaphysik, München: Beck Verlag 1984, S. 62f.). Was nun daraus folgt, wenn man das Gesagte und Gemeinte auf den Kreml-Chef anwendet, darf der Leser und die Leserin dieser Zeilen selbst herausfinden.

(b) Was bedeutet nun Grund im Unterschied zur Ursache in der nun folgenden zweiten These?

Grund (άρχή, arché, principium, ratio), bedeutet gewöhnlich: zeitlicher Anfang oder Herrschaft, auch [ontologischer, vom Sein kommender] Ausgangspunkt. Beispiel: Der ontologische Ausgangs­punkt des Menschen wurzelt im Ewigen-Ur-Sein. Der ontische Ausgangspunkt eines Menschen ist im irdischen Dasein seiner Eltern begründet: Bevor ich geboren werden konnte, waren meine Eltern schon da. Aristoteles gibt eine maßgeblich gewordene Begriffsbestimmung:

Grund ist seinem allgemeinen Wesen nach „ein Erstes, von dem aus etwas ist, wird oder erkannt wird“ (Metaphysik, 1013a). Nach Thomas von Aquin ist principium „alles das, aus dem etwas auf irgendeine Weise hervorgeht“ (Summa Theologica I q. 33 a. 1). Darum heißt es folgerichtig im Neuen Testament: „In principio [im Anfang] erat verbum“ [war das Wort]. Dieses Wort als Logos ist der apriorische Weltentwurf, der gründende Grund. Es ermöglicht jedes Gründen, Be­gründen, Erklären und Warum-Fragen.

Halten wir für unser Verständnis fest: Grund (oder lat.: principium als „primum capere“ = das Erste erfassen) ist das Erste, wovon etwas in irgendeiner Ordnung den Anfang nimmt. In der Ordnung des Menschlichen ist der eigentliche Grund einer Tat, einer Handlung: die Freiheit! Das muss zuerst fühlend erkannt werden und dann erst ist nach psychologischen oder politischen oder wirtschaftlichen oder geopolitischen Erklärungen bzw. Gründen (Plural!) und Ursachen zu suchen. Von hier versuchen wir nun die zweite These zu verstehen, die da lautet:

Zweite These: „Für diese freien Willensakte gibt es Gründe, aber keine Ursachen.“

Der freie Willensakt eines Menschen ist insofern als Grund einer Handlung das Erste, als man nach der erfolgten Handlung – z.B. ein Ge­bäude mit vielen Menschen in die Luft zu sprengen oder ein Land militärisch anzugreifen – sagen kann und muss: Was da geschehen ist, hat seinen Grund [seinen Ausgangspunkt] in der Freiheit eines oder meh­rerer Menschen, in den frei getroffenen Willensakten von Mitgliedern einer Regierung, oder im Willensakt eines Regierungs-Chefs, der den Untertanen seinen Willen aufzwingt. In diesem Duktus ist zu sagen: Der letzte Grund für die Terrorakte der vergangenen Jahre in den verschiedenen Ländern liegt in dem freien Willen derjenigen Personen, die sich entschieden haben, viele unschuldige Menschen zu ermor­den, Zivilgebäuden in die Luft zu sprengen oder eben ein Bruderland brutal anzugreifen. Die Gründe (Plural!) dafür sind eine Stufe tiefer, nämlich in der Persönlichkeitsstruktur der Täter, in ideologischen und politischen Faktoren usw. zu suchen, und man wird sie auch finden, wenn man differenziert genug analysiert und den historischen Kontext berücksichtigt (z.B., dass eine unkluge Imperialpolitik der Regierung der USA die arabische Welt sehr, sehr gedemütigt hat). Diese Gründe, die irgendwann als Ursachen und Motive identifiziert werden können, liegen also in histo­rischen, wirtschaftlichen und politischen Um­ständen. Über diese kann und muss man klarerweise diskutieren, um die Wirkungen aus den Ursachen zu verstehen.

Viele Historiker, Politologen, Soziologen, Militärexperten, Journalisten usw. diskutieren seit dem Ausbruch des Kriegs, den Russland gegen die Ukraine angezettelt hat, darüber, durch welche in den vergangenen Jahren vorhandenen „Faktoren“ oder „Versäumnisse“ des Westens es dazu kommen konnte, dass mitten in Europa nun schon wieder Krieg herrscht. Diese Diskussionen und Analysen sind zweifelsohne wichtig, denn wir alle wollen „rational verstehen“, wieso und warum Putin gerade jetzt das tut, was er tut. Nachdem aber alle Analysen und historische Faktoren dargelegt worden sind oder noch werden, bleibt ein letzter „Rest“ an Dunkelheit, die der Verstand nicht durchdringen kann, weil es mit dem „Mysterium der Freiheit“ und auch mit dem „Mysterium des Bösen“, dem „mysterium iniquitatis“ zu tun hat. Diesen „Rest“ kann man in Worten, in etwa, so formulieren: Der Kreml-Chef hat es so gewollt, er hat sich aus einem freien Willensakt, der den Grund seiner Handlung bildet, für einen Krieg entschieden. Er hat etwas vorgezogen (den Krieg!) und etwas anderes fallen gelassen (das diplomatische Bauen auf den Frieden). An und für sich hätte er sich auch anders entscheiden können. Der Mensch ist ein Sich-entscheidendes-Wesen (Jaspers).

Und: Auch die anderen involvierten Akteure hätten sich, schon vor Jahren, anders entscheiden können, wobei ein gutes Ergebnis hätte erzielt werden können, nämlich: dass die Ukraine gänzlich neutral bleibt, wie Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Russland seine Aggressionen zügelt, und die USA und Nato die Empfindlichkeiten Russlands berücksichtigt und akzeptiert. Über diese Konjunktiv-Form hinaus bezüglich der Gründe und Ursachen des aktuellen Geschehens in der Ukraine bleibt aber das Faktum bestehen: Diesen Krieg hat ein einziger Mann eingeleitet – aus seiner freien Willensentscheidung. Seine Freiheit ist der Grund für den Krieg. Er meint, dafür historische Gründe gehabt zu haben. Die verschiedenen historischen Faktoren, die hier nur angedeutet werden, sind die Ursache oder Ursachen für diesen Krieg.

Auch ein positives Beispiel soll genannt werden: Die letz­ten Gründe für die heroische Nächstenliebe der Mutter Teresa liegen im freien Willen dieser kleinen albanischen Frau, die, sich an der Liebe Christi orientierend und von der Liebe zu Christus bewegt, motiviert war, ihre sichere Stellung als Lehrerin aufzugeben, und sich den Ärmsten in Indien zu widmen. Sie bleibt eine hell-leuchtende Gestalt der Menschheitsgeschichte. Der Grund ihrer Handlung, im Sinne der Nächsten-Liebe, war ihre Freiheit, die sich an der Liebe Christi orientiert hat.

Dritte These: „Solche Gründe erklären nicht die Wahl eines bestimmten Verhaltens, sondern nur seinen Sinn.“

Im Folgenden wird in der ersten Person Singular formuliert. – Aus Gründen, die ich in meinem eigenen freien [sinnorientierten] Willen erle­bend vorfinde, eigne ich mir ein Verhalten an, das das Gute, das Sinnvolle und die Freude in dieser Welt vermehrt. Andererseits kann ich mir auch ein Verhalten aneignen, dass das Gegenteil des Guten bewirkt. In beiden Fällen bleibt der Grund für mein Verhalten meine Freiheit, der freie Willensakt. Was nun die Gründe bzw. die Ursachen für mein Verhalten anbelangt, da lassen sich verschiedene und plausibel klingende psychologische oder psychohistorische Erklärungen angeben: Ich hatte eine gute Erziehung, ich bin von Natur aus eher ein friedlicher Mensch, mir ist der sinnvolle Kompromiss wichtiger als ein Krieg usw. Oder: Ich hatte eine schlechte Erziehung, man hat mich als Kind schon missbraucht, ich neige vom Charakter her zur Gewalt, Aggression und Impulsivität und ich riskiere auch einen Krieg, wenn ich der Ansicht bin, dass ich der Sieger sein werde. Fazit: All diese Gründe im psychologischen Sinn des Wortes, erklären diejenige Richtung meiner Handlungen, die in meiner subjektiven Sicht wie Sinn erscheinen (in dem einen Fall), aber auch Un-Sinn sein können (in dem anderen Fall, wenn ich mich für den Krieg entscheide). Konkret und mit Blick auf den Krieg gesprochen: In der subjektiven Sicht von Wladimir Putin sind Gründe vorhanden, die für ihn rechtfertigen, dass er aus einem freien Willensakt denjenigen „Sinn“ (das Wort passt hier nicht!) anvisiert (objektiv gesehen ein UN-Sinn), dessen Realisierung nur mit blutigen Opfern erreicht werden kann. Was ihm selbst so und so zu sein scheint, ist aber de facto anders. Nun aber auch der Schein gehört zur Realität und kann – gemästet durch die Gedankenkräfte des nicht-sinngerechten Denkens – Scheinwelten generieren, die bedrücken, ersticken und zahlreiche Menschen zugrunde richten. Noch einmal: Die Gründe, (die Putin für sich zu erkennen meint), erklären nicht die Wahl seines Verhaltens, (denn diese Wahl wurzelt in seiner Freiheit und hat in ihr seinen Grund), sondern nur den Sinn bzw. Un-Sinn seines sehr bestimmten Verhaltens, in dessen Ausrichtung er selbst einen Sinn zu erkennen wähnt. Doch dabei handelt es sich in Wirklichkeit um einen Wider-Sinn und letztlich um einen Un-Sinn. Kein Krieg, keine atomare Bedrohung können zwischenstaatliche Probleme lösen.

Deshalb halte ich fest: Der Kreml-Chef tut, was er tut, weil er frei ist, weil er tun kann, was er tut, und alle anderen – seine führenden Militärs, die Soldaten und die gesamte EU und die gesamte westliche Welt – müssen dazu Stellung nehmen. Dass Wladimir Putin am 25. September 2001 in seiner auf Deutsch gehaltenen brillanten Rede (man kann sie auf „youtube“ anhören) ganz anders gesprochen und einen durch und durch konstruktiven Geist ausgestrahlt hat, wird heute noch jeden beeindrucken, der sich seinen Worten aussetzt (ca. 25 Minuten hat er damals sehr gut gesprochen, und damals hätte der Westen die Beziehungen mit ihm in die gute Richtung vertiefen können. Diese Versäumnisse des Westens gehören in die Sphäre der Gründe und Ursachen, erklären aber nicht den eigentlichen Grund für den Krieg, denn dieser Grund heißt: die Freiheit eines einzigen Mannes).

Vierte These: „Der Mensch kann sich auch gegen sinnvolle Gründe entscheiden.“

Er kann in sich selbst erkennen und erfühlen, dass es nicht gut ist, unschuldige Menschen zu tö­ten, oder, dass es nicht gut ist, ein kleines Kind zu vergewaltigen, und dennoch entscheidet er sich für die Vergewaltigung und für die Tötung. Hier beginnt auch das, was ich in klassischen Termini „das Satanische“ oder das „radikal Böse“ nennen will. Es handelt sich hier nicht nur um eine niemals restlos er­klärbare Freiheit eines Einzelnen, der tut, was er [willkürlich] will, und wofür er seine Gründe zu haben meint, sondern wir stehen hier vor dem Geheimnis des Bösen, vor dem „mysterium iniquitatis“.  – Es ist das Phänomen der fehlgeleiteten Freiheit desjenigen Menschen, der seinen Willen zum Sinn nicht spürt und – wiederum weitgehend frei – sich gegen sinnvolle Gründe entscheidet. Der sinnvollste Grund wäre eindeutig, dass wir in Europa und auf der ganzen Erde den Frieden absolut existenziell brauchen. Jemand kann sich allerdings auch gegen diesen Grund entscheiden. Und er hat es schon getan. Auch heute, 21 Jahre nach der sehr guten Rede von Wladimir Putin vor dem Deutschen Bundestag, traue ich ihm zu, dass ihm die guten Gründe für eine kooperative Haltung weiterhin bekannt sind. Es bleibt zuletzt das Geheimnis seiner Freiheit (als Grund seiner Entscheidung) für all das, was er selbst an weitreichenden Folgen und Auswirkungen generiert hat.

Fünfte These: „Ursachen sind Erklärungen für das Nicht-Entscheidbare.“

Aus der folgenden (realen) Kurzgeschichte entnehme man den Sinn dieser These. Ein 42-jähriger Mann lebt 15 Jahre mit seiner Partnerin in guter Beziehung. Von heute auf morgen teilt er ihr mit: „Ich habe mich in eine andere Frau verliebt, hiermit beende ich die Beziehung zu dir und will keine weiteren Erklärungen mehr abgeben.“ – Die verlassene, traurige, erschütterte Frau sucht nach Ursachen dieser Entscheidung. Irgendwann wird sie auch welche finden. Sie wer­den ihr den urplötzlichen Sinneswandel ihres Partners erklären. Sie erklären das Nicht-Entscheid­bare: Für sie ist ein Nicht-Entscheidbares, die Entscheidung ihres Partners rückgängig zu ma­chen.

In Analogie zu dieser realen Gegebenheit lässt sich sagen: Für einen durchschnittlichen europäischen Bürger ist ein Nicht-Entscheidbares, die Entscheidung des Kreml-Chefs rückgängig zu machen. Oder: Man kann als kleiner Pfarrer von (sagen wir: Oberpfaffenhofen) nicht entscheiden, was im Vatikan, im innersten, geheimsten Zirkel der Kurienkardinäle zu geschehen hat. Oder: Man kann als ein Nichtamerikaner über die Zustimmung von 70 Millionen Amerikanern für Donald Trump nicht entscheiden. In all diesen und weiteren „Fällen“ wird man die Ursachen analysieren, um für den Verstand befriedigende Erklärungen zu finden. Und man wird auch für ein bestimmtes Verhalten, für eine bestimmte Entscheidung eines Einzelnen oder einer Regierung bestimmte Ursachen finden. Aber die Ursachen sagen uns nicht, wie wir uns verhalten sollen, um – beispielsweise – mit dem Rechtsextremismus in Deutschland oder in den USA umzugehen; um dem Kreml-Chef so zu begegnen, dass er mit seinem Wahn-Krieg aufhört; um bestimmte Kurienkardinäle in Rom für unerlässliche Reformen der Kirche zu gewinnen usw. Denn: Die Ursachen liefern Erklärungen für das, was (von mir, von uns) nicht entscheidbar ist. Oder: Ursachen sind Erklärungen für Handlungen anderer, über die ich keine Entscheidungsgewalt habe. Das kausale Denken wirft immer wieder die Frage auf: Weshalb und warum tut er dies oder das? Weshalb und warum quälen Eltern ihre Kinder? Warum und wieso können die Europäer nicht endlich in Frieden leben? … Und dann sucht man verzweifelt nach Ursachen, um dieses oder jenes Verhalten irgendwie „einzuordnen“ und zu verstehen. Das ist Psychologie. Wichtig! Denn die Psy­chologie und die Psychohistorie können viele bemerkenswerte Ursachen für das Verhalten eines Menschen liefern [Motive und Prägungen untersuchen] und in concreto sind diese auch relevant mit Blick auf die Auflösung einer – persönlichen oder internationalen – Verstrickung, die die Integrität, die Gesundheit und das Leben vieler Menschen gefährdet.

Nur: Der Mensch belügt sich nie so sehr, als wenn er selbst die Gründe seines Tuns ergraben will, denn diese Gründe reichen so „tief“ und so „hoch“ wie seine geistige Freiheit. Und letztlich will geistige Freiheit, wenn sie empfindungsbewußt im „gründenden Grund“ [im göttlichen Logos] wurzelt: Sinn, Freude, Frieden, Gelingen, Glück, Transparenz, Harmonie, schöpferische und aus der Liebe inspirierte Tat. Doch die vom göttlichen Ur-Grund losgelöste Freiheit wird zum „Gespenst der Freiheit“, die sich selbst, angesichts der fast unbegrenzten Möglichkeiten, in der Vielfalt verliert, sich selbst in die Vielfalt hinein verstrickt, und sich selbst nicht mehr als eine von der Verantwortung begrenzte Freiheit „für“ nicht verhandelbare Werte empfindet. …

Alle „Akteure“, die den grauenvollen Konflikt in der Ukraine gestalten oder verunstalten; alle Akteure, die diese absolut unheilvolle Situation – bewusst, unterbewusst, mit oder ohne Absicht – „vorbereitet“ und mitverursacht haben, müssen innehalten, tief einatmen und den Ausgleich suchen, der den Frieden bewahrt. Das ist eine Sollens-Notwendigkeit!!! (O. Zsok)

P.s. Dass diese Reflexionen nicht das stoppen können, was in der Ukraine zurzeit geschieht, ist mir sehr bewusst und es macht mich traurig, wütend und zornig. Diese Tage sind für Europa die Tage (und Wochen) der Finsternis. Andererseits: Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis kann es nicht auslöschen.

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