Der Wille zur Macht und der Wille zum Sinn (Februar 2022)
In der sogenannten „Ukraine-Krise“, die ganz Europa angeht, fragen sich viele Menschen: Wovor hat die Führung einer Großmacht – wie Russland, China, USA – Angst? Dass irgendjemand sie angreift? Dass sie Territorien oder Einfluss verliert? Dass sie nicht ausreichend respektiert wird? Solche Fragen hat in abgewandelter Form schon der griechische Weise Sokrates (470–399 v. Chr.) gestellt und im Grunde auch beantwortet. Er sagte in Essenz: Derjenige, der wahrhaftig mächtig ist, der beherrscht sich selbst, hält seine Gelüste und Aggressionen in Zucht und ist nicht daran interessiert, über andere mit Gewalt zu herrschen oder andere zu unterdrücken. Ein solcher Mensch ist der eigentlich Mächtige, so Sokrates. Die anderen, die diese Selbstbeherrschung nicht besitzen, können zwar im Außen, auf der politischen Bühne mächtig wirken, auch ihre Nation, ihr Volk unterdrücken, (hierzu brauchen sie aber immer Helfer), aber diese „Macht-Typen“ nennt Sokrates Tyrannen und er fügt noch hinzu: Sie seien im Grunde unglücklich. Das damals Gesagte und Gemeinte, ist 2400 Jahre später immer noch aktuell. Tyrannei bzw. die Herrschaft eines Tyrannen scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Dieser Typus besitzt die kratische Begabung (Vittorio Hösle), welche „in der Fähigkeit besteht, die eigene Macht zu erweitern. Dazu gehört eine Sichtweise auf die Wirklichkeit, die jeden Menschen dahingehend wahrnimmt, ob er dem eigenen Machtstreben nützlich oder schädlich ist“ (V. Hösle, Globale Fliehkräfte. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2021, S. 244). In dieser sehr eingeengten – man könnte auch sagen: subhumanen und nur das Psychophysikum berücksichtigende – Sichtweise eines tyrannischen oder kratischen Typus erscheinen die Anderen – Mitmenschen, bestimmte Institutionen, Länder, Weltanschauungen – als Feinde, (die zu bekämpfen oder gar zu vernichten gilt), und nicht als in der Bewältigung von globalen Problemen mögliche und sogar die Not wendende Kooperationspartner. Das ist die eine Seite eines komplexen anthropologischen Phänomens. In anderen Worten: In dieser eingeengten und gefährlichen Sichtweise spielt allein der Wille zur Macht (Alfred Adler) die Motivation für Handlungen.
Die andere Seite oder den anderen Aspekt lässt die neurobiologische Forschung der letzten 40 Jahre erkennen, nämlich, dass der Mensch „aus Sicht der Gene“ nicht für ein egoistisches, die anderen aggressiv angreifendes, sondern für ein Sinn-geleitetes, prosoziales Leben bestimmt ist (vgl. Joachim Bauer, Das empathische GEN. Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen. Freiburg: Herder Verlag 2021, S. 20). – Erst in dieser Sichtweise taucht der Wille zum Sinn (Viktor Frankl) als Motivationsgrund zu Handlungen auf. Doch nur der einzelne Mensch kann in sich selbst diesen in ihm ruhenden, ihm inhärenten Willen zum Sinn keimen und wirken lassen, wobei jeder Einzelne hierzu eine Anleitung, eine gute – ideologiefreie – Erziehung braucht, vor allem in der Kindheit und der Jugend. Dass das wahre Glück und die echte Lebensfreude mit einer Sinn-geleiteten Lebensführung engstens verbunden ist, hat nicht nur der Arztphilosoph und Psychiater Viktor Frankl im 20. Jahrhundert gelehrt, sondern zwei Jahrtausende vor ihm hat schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik dargelegt: Eudaimonia, das heißt „von einem guten Geist geleitetes Leben“ (J. Bauer) sei die eigentliche Bestimmung des Menschen, weshalb allein das Streben nach dem Guten dem innersten Wesen des Menschen entspricht. – Wieso und warum, trotz dieser eindeutigen Erkenntnisse über die prosoziale Natur des Menschen, manche Leute im Jahr 2022 dennoch einen bewaffneten Krieg wollen (wobei sie so tun, als wollten sie dies nicht), lässt sich annähernd so beantworten: In ihnen dominiert der Wille zur Macht über den Willen zum Sinn. Ist dies in vielen Einzelnen – in Europa und Asien – der Fall, wird ein Krieg unabwendbar sein. Dann aber des Himmels Gnade sei mit der Menschheit! (O. Zsok)