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Meinung und Fakten – lasset uns in Frieden bleiben (Januar 2022)

Deborah Lipstadt, geboren 1947 in New York, ist eine ausgezeichnete Historikerin und Holocaust-Forscherin. Sie kommt nicht aus einer Familie Überlebender, denn ihr in Hamburg geborene Vater hat schon 1926 Deutschland verlassen. In der Disziplin der Holocaust-Forschung, die in den 1980er Jahre ihren Anfang nahm, hat sie sich einen international hochgeachteten Namen gemacht, indem sie das erste und wichtigste Gebot der Geschichtswissenschaft stets vor Augen hielt und hält: Im Umgang mit den Quellen die Fakten erkennen und anerkennen und sich dann erst einer Deutung widmen. Da es immer einzelne Menschen sind, die in irgendeiner Wissenschaft die Fakten (das reale Geschehen) erkennend entdecken, und sie dann so oder anders deuten, d.h. sich darüber eine Meinung bilden, ist es für Deborah Lipstadt enorm wichtig, die eigene Meinung und die Fakten sorgfältig zu unterscheiden. Immer sei sie bereit, sagt sie, mit Menschen zu diskutieren, die andere Meinung haben, zumal die Meinungsfreiheit in den USA zu den erstrangigen Grundrechten gehöre. Doch Achtung, sagt sie weiter: Es sei nicht möglich, „an der historischen Wahrheit zu rütteln. Man kann zwar seine eigene Meinung haben, aber nicht seine eigenen Fakten.“ Und sie fügt noch hinzu: „Das ist die Lektion, die uns die Geschichte der Shoah lehrt.“ (Vgl. Interview mit Verena Mayer, in: SZ, 20.01.2022, S. 9). Und im Namen des altehrwürdigen und nicht ersetzbaren Wortes „Wahrheit“ ist heute, in der seit Monaten andauernden Ukraine-Krise, schlicht und einfach festzuhalten: Nur die eine Großmacht hat einhunderttausend Soldaten und modernste Waffen in die unmittelbare Nähe der ukrainischen Grenze verlegt. Das ist die faktische Wahrheit. Die sogenannte Bedrohungsszenarien, welche von wenigen Kriegstreibern der Kreml-Führung propagandistisch verbreitet werden, sind den Fakten gegenüber lediglich Meinungen und Deutungen und in einem weiteren Schritt auch Drohungen, nach dem Motto: Der Westen wolle Russland einkreisen, wir lassen dies aber nicht zu. Oder: Die Nato rücke immer näher an unsere Grenzen, wir werden aber Europa zeigen, wer hier das Sagen hat. Oder: Wir wollen gar nicht in die Ukraine einmarschieren, wir wollen nur verbindliche Garantien. Diejenigen, die so reden, – wobei auch Donald Trump vier Jahre hindurch nach diesem heillosen, erdenmenschentierischen Muster geredet und gehandelt hat –, ignorieren, dass mindestens seit 1990 (Pariser Abkommen) eine internationale Rechtsordnung besteht, die auch von der Führung der früheren Sowjetunion als verbindlich akzeptiert wurde. Fakt ist, dass sich auch Russland in verschiedenen Verträgen zu einem friedlichen Miteinander und zur Achtung der Grenzen in Europa verpflichtet hat. Doch der Wille zur Macht in einem einzigen Menschen, der sich das Präsidialamt bis 2036 gesichert hat, rief eine sehr berechtigte Kritik hervor. Michail Gorbatschow, der letzte besonnene, charismatische Präsident der Sowjetunion, hatte vor einiger Zeit Kritik daran geübt, dass Putin nicht der Verfassung gemäß nach zwei Amtszeiten abtreten wollte. Wie aber soll einer dies tun, der sich längst schon mit dem Willen zur Macht identifiziert hatte? Auch hier gilt, was Viktor Frankl in Vorträgen und Schriften unermüdlich und in vielen Varianten wiederholt hat: Es ist immer der Einzelne, der sich so oder anders entscheidet. Gorbatschow hat sich für die Öffnung seines Landes entschieden. Einige Jahrzehnte vor ihm hat sich Stalin für die Terrorisierung seines Landes entschieden, sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Und ebenso Fakt ist, dass Putin – der frühere Geheimdienstler, dann Politiker und inzwischen ein Kriegsherr – seine Herrschaft nach dem Stalin-Muster ausdehnen will. Das ist natürlich auch eine Wahl. Die Wahl eines Einzelnen, der die EU verachtet und nicht ernst nimmt. (Wofür er manche faktisch zutreffenden Gründe hat, das muss man auch sachlich anerkennen). Ob dadurch der so existenziell wichtige Friede in Europa (und in der ganzen irdischen Welt) bewahrt werden kann, ist eine ganz andere Frage. Oberflächlich optimistisch Denkende meinen: Es sei alles nur Muskelspiel oder alles nur Theater. Ein kleiner Mann, dem es nicht passt, dass die Sowjetunion untergegangen sei, wolle der Welt zeigen, dass er und sein Land die neue Weltordnung bestimme. Weniger optimistisch Denkende sprechen anders. Sie sagen: Nein, es gehe da nicht nur um Muskelspiel, sondern um militärische Stärke, um die Erhöhung der Anspannung im chaotischen, korrupten Westen, um die Freimachung des ersten Platzes der USA in Europa, den dann Putin allein besetzen wolle.

Beide Meinungen bzw. Deutungen sind auf alle Fälle denk- und diskussionswürdig. Es gäbe da noch eine dritte Deutung bzw. einen ganz anders gearteten Ansatz für eine mögliche Deeskalation des hochgeschaukelten Konfliktes. Die Kontrahenten (vereinfacht gesagt: die Führung der USA und die Führung von Russland) sprechen miteinander von nun an nicht mehr auf der Ebene des Willens zur Macht – nicht mehr der Frage entlang, wer der Mächtigere ist –, sondern sie (die Führung der Großmächte) akzeptieren den Willen zum Sinn als primäre Motivation für alle weiteren Verhandlungen. In Konjunktivform ausgedrückt: Wäre dies der Fall, und zwar in vielen einzelnen Politikern, die weltweit „das Sagen haben“, müssten wir nicht fürchten, dass ein Dritter Weltkrieg die Menschheit in den allerdunkelsten Abgrund reißt. Doch so weit sind wir noch nicht: Da in der Realpolitik die Sinnkategorie so gut wie keine Rolle spielt; da wir in Europa aus zwei Weltkriegen nichts gelernt haben; da wir in unserer politischen (Un-)Kultur der Liebe zur Macht eine unvergleichlich größere Bedeutung zumessen als der Liebe zu sinnvollen oder zumindest sinnzentrierten und werteorientierten Lösungen; und da wir in uns selbst nur den berechnenden Verstand und die stets oszillierende Psyche wahrnehmen, ohne den Geistes-Menschen in uns zu erspüren.

Diese in uns allen latent vorhandene Dimension, der Homo humanus, hat sich, Gott sei Dank, in der Gestalt von Michail Gorbatschow manifestiert. Eine im positivsten Sinn zu nehmende Ausnahmeerscheinung in der europäischen Geschichte, wie es sie im 20. Jahrhundert nur ein einziges Mal gegeben hat. Dass der bald 91-jährige Gorbatschow heute von der sogenannten russischen Elite in seinem Land verhöhnt und entwertet wird, ist außerordentlich bedauerlich. Ich persönlich wünsche ihm viel Kraft und den Segen von Oben. Darüber hinaus zitiere ich zustimmend einige Sätze aus seinem 2019 veröffentlichen Appell an die Welt: „Das Ende des Kalten Krieges war das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen. Die Führer der Staaten, von denen das Schicksal der Welt abhing, [USA und Sowjetunion], zeigten damals Verantwortungsbewusstsein und politischen Willen. Und die gewaltigen Veränderungen, die allen Völkern Europas den Weg zu Freiheit und Demokratie ebneten, verliefen friedlich und gewaltfrei“. (Michail Gorbatschow, Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit. München: Siedler Verlag 2019, S. 22).

 Genau diese Geisteshaltung des Groß-Geistes Michail Gorbatschow brauchen wir heute. Viel spricht dafür, dass die Großmächte darin übereinstimmen könnten, wenn sie nur wollten, dass die Ukraine in den nächsten zehn Jahren politisch neutral bleibt, das heißt: weder Nato-Mitglied noch Teil von Russland wird, und unter der Leitung der UNO steht. So ähnlich wie Österreich nach dem Krieg neutral war, so kann auch die Ukraine neutral bleiben, sofern der politische Wille aller Beteiligten wirksam wäre. Das würde bedeuten, (a) dass die Nato innehält, sich nicht weiter „ausdehnt“, und dass die Kreml-Führung von ihren Großrusslandvorstellungen ablässt; (b) dass auf beiden – allen – Seiten der Hass in den einzelnen Herzen zurückgedrängt und in Empathie verwandelt wird: In Empathie für das Wohl aller Menschen in Europa! Und das alles würde weiterhin bedeuten, (c) dass alle Beteiligten die aktuelle Extremkrise durch Diplomatie weitergestalten, sich nicht gegenseitig verbal verletzen, und aus dem Willen zum Sinn motiviert eine „Win-Win“ Lösung anstreben, nach dem Motto: Du gewinnst etwas, ich gewinne etwas, und wir bewahren den für uns alle so lebenswichtigen Frieden; haben wir doch genug andere Probleme mit der Umwelt und der Pandemie. (O. Zsok)

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