Skip to content

„Selbst zum Segen werden“ (Sonja Ruhdorfer im Gespräch mit Dr. Herbert Specht I April 2024)

Lieber Herr Dr. Specht,
die Geschichten von Menschen, die mit viel Energie Sinn verwirklichen und konkrete Projekte ins Leben rufen, inspirieren uns sehr und daher freuen wir uns, heute etwas über Sie zu erfahren und von Ihnen zu lernen. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Sie sind Pfarrer i.R., Dr. theol. im Fach Altes Testament mit div. akademischen Tätigkeiten und Lehraufträgen und ausgebildeter Logotherapeut. Wir haben Sie im Institut bereits als Referenten mit einem besonderen Ansatz kennen gelernt, nämlich logotherapeutische Inhalte anhand bestimmter Bilder von Salvador Dalí zu vermitteln. Dazu gibt es in diesem Jahr zwei Angebote von Ihnen, auf die wir schon sehr gespannt sind. Zudem organisieren Sie in Kooperation mit unserem Institut den Kongress mit dem Thema „Verantwortung heute – wofür?“ am 09./10.05.2025 in Bad Wörishofen anlässlich der Befreiung Viktor Frankls aus dem Konzentrationslager Türkheim vor 80 Jahren. Also ein größeres Projekt, das einiges an Vorbereitung, Ideen und Gesprächen erfordert.

Es ist kein Geheimnis, dass Sie bereits im Ruhestand sind. Sie könnten sich also einfach zurücklehnen und entspannen. Was motiviert Sie, weiterhin zu arbeiten und sich gesellschaftlich zu engagieren?

Das Leben ist jeden Tag neu ein Geschenk. Auf dieses Geschenk will ich dankbar antworten, solange ich kann. Frankls tiefe Einsicht, dass wir Menschen u.a. durch das Verwirklichen schöpferischer Werte Sinn erfahren, erlebe ich sehr bewusst. Derzeit erarbeite ich mir vor allem Salvador Dalís Bilder zur Bibel. Einerseits muss ich hier intensiv nachdenken, also „arbeiten“, zum anderen entdecke ich immer wieder aufregend Neues. Es ist wie bei einer Reise in ein Land, das ich schon etwas kenne, dessen Schönheiten sich aber immer wieder aus neuen Perspektiven ergeben. Vielleicht kann ich es so sagen: In meinem gegenwärtigen Tun verbinden sich „schöpferische Werte“ und „Erlebniswerte“ in idealer Weise.

Woraus schöpfen Sie Kraft und Kreativität?

Ein Kraftquell ist sicher mein Glaube, dass Gott Menschen nicht kleinmachen will, sondern groß. Also in religiöser Sprache, dass jede und jeder Mensch Gottes Ebenbild ist und wir also „königliche Menschen“ sind: frei, in Beziehung zu Gott, zu unseren Mitmenschen, der Mitwelt, und also „in Verantwortung“. – Von außen betrachtet, bin ich eher in „kleinen Verhältnissen“ aufgewachsen. Aber immer wieder hatte ich Grund zu staunen: „Was ist dir nicht alles in dein Leben hineingelegt worden! Das hättest du dir nie zu träumen gewagt!“

Kraft gibt auch, dass ich auf meine Arbeit häufig eine positive Resonanz erfahre. Zum einen kann man über Bilder oder manche Worte in guten Kontakt mit Menschen kommen. Aber wenn jemand sagt: „Dieser Gedanke hat mich weitergebracht“, oder „Deine Interpretation hat mich berührt“ – dann ist das nicht einfach nur ein Lob. Was dann? Ich habe Hemmungen, den folgenden Gedanken über mich selbst zu schreiben. Bei anderen tue ich mir leichter. Da würde ich sagen: Der oder die ist ganz Mensch, weil und indem sie oder er anderen zum Segen geworden ist. Gesegnet / beschenkt sein und selbst zum Segen werden – das ist eine gute (beglückende?) Lebens-Spannung.

Was ist Ihr Bezug zur Geschichte des Nationalsozialismus und spielt(e) Ihr Wohn- und Arbeitsort in der Nähe von Türkheim eine Rolle?

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat schon meine Jugendjahre geprägt. Für mich war es unfassbar, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte. Die Widerstandskämpfer waren für mich die großen Vorbilder. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hatte die NPD in Baden-Württemberg großen Zulauf. Umbrüche in der ländlich-landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft dürften die Hauptauslöser gewesen sein. Ich bin dann als 16-18-Jähriger (im Anzug, sonst wäre ich nicht ernst genommen worden) mit meinem Moped regelmäßig zu NPD-Wahlversammlungen gefahren, habe mich als erster gemeldet und eine Frage zur Ostpolitik gestellt. Diese ließen sich stets zu nationalen Höhenflügen hinreißen, die das Publikum aber gar nicht interessierten. Für die Misere in der Landwirtschaft hatten sie gar keine Zeit mehr … und das Publikum ging frustriert und ernüchtert nach Hause. …

Nach Bad Wörishofen sind meine Frau und ich erst im Ruhestand gezogen. Insofern war es immer „Ruhestands-Arbeit“. Aber ich habe mehrfach Besuche in der Gedenkstätte Türkheim ausgeschrieben, die gute Resonanz fanden. Dabei zitierte ich nicht nur aus „…trotzdem ja zum Leben sagen“, sondern auch Frankls Rede in Türkheim von 1985. Spannend ist auch: Frankl kam relativ rasch nach seiner Befreiung nach Bad Wörishofen und arbeitete in einem umgewandelten Hotel als Arzt für „Displaced Persons“. DP waren u.a. Entlassene des KZ-Außenlagers, Kriegsgefangene und andere durch Krieg Gestrandete.

Vermutlich erinnern sich alle an den bewegenden Bericht Frankls in „…trotzdem ja zum Leben sagen“ (dtv-Ausgabe S. 143) von seinem Eintritt ins „neue Leben“. Die Lerchen jubilieren am Himmel, und Frankl sinkt auf seine Knie; „du hörst nicht viel von dir und nicht viel von der Welt, du hörst in dir nur einen Satz, und immer wieder denselben Satz: »Aus der Enge rief ich den Herrn, und er antwortete mir im freien Raum.«“ Auch wenn Frankl nicht darauf hinwies: Nach seinen Worten vergingen „viele Tage, bis sich etwas im Innern gelöst hatte“ – also kann er diesen Umbruch nicht mehr in Türkheim, sondern im Umkreis von Bad Wörishofen erlebt haben. In Bad Wörishofen habe ich öfters als Kurseelsorger „spirituelle Wanderungen“ angeboten. Öfters habe ich den Ort der „Displaced Persons“ aufgesucht, von Frankls Schicksal erzählt und den bewegenden Bericht von Frankls Durchbruch ins „neue Leben“ vorgelesen. Worte, die berühren.

Gab es Berührungspunkte mit Betroffenen und Hinterbliebenen und was hat das mit Ihnen gemacht?

2014 habe ich über die Heimatzeitung nach Zeug*innen des Hauses für „Displaced Persons“ gesucht; die Resonanz war aber mäßig und hat kaum verwertbare Aussagen gebracht. Zur Zeit macht sich die Archivarin der Stadt Bad Wörishofen auf Spurensuche; wir können gespannt sein, ob sich Neues ergibt. Ich hatte aber vielfachen Kontakt mit Holocaustüberlebenden, z.B. bei Reisen nach Israel/Palästina. Um nur ein Erlebnis zu nennen: Unsere Reisegruppe sitzt im Hotelrestaurant. Am Nachbartisch eine Familie aus Beersheba; sie hören uns deutsch reden. Da kommt die ältere Frau an unseren Tisch und fragt: „Ist in Ihrer Gruppe auch jemand aus Lahr?“ – „Ja, sage ich, hier, Frau Maier ist aus Lahr. Die jüdische Frau sagte: „Haben Sie je den Namen Dr. xy gehört?“ Die deutsche Frau aus Lahr: „Ja, der war doch Arzt in Lahr; meine Freundin war Hausmädchen bei ihm.“ Tränenüberströmt ging die jüdische Frau aus dem Restaurant; nach einer Stunde hatte sie sich wieder gefangen. Der Arzt war ihr Onkel. 1943 wollte er in seiner Verzweiflung seine gesamte Familie, Frau, Kind und sich selbst auslöschen. Zu seinem Unglück kam jemand, bevor er tot war. Polizei oder andere ließen Frau und Kind sterben; er aber wurde reanimiert, um ihn vor Gericht zu stellen wegen Mordes an Frau und Kind. Die Frage der jüdischen Frau: „Haben alle in ihm einen Mörder gesehen?“ Die Dame aus Lahr erzählte ihr und uns, wie ihre Freundin (also das Hausmädchen) den Vorgang wahrheitsgemäß beschrieben hatte. Aber wir alle waren im furchtbaren Geschehen von vor fast 50 Jahren mitten drin. Für die Frau aus Beerscheba war es geradezu befreiend, zu hören, dass nicht alle der Lügenpropaganda auf den Leim gegangen waren. Dass wenigstens ein paar Leute aus Lahr wussten und wissen, was in Wahrheit geschehen ist. Keine und keiner wird diesen Abend im Hotelrestaurant vergessen.

Was bedeutet (u.a.) Viktor Frankls Befreiung aus dem Konzentrationslager für Sie und wieso brauchen wir eine Gedenkveranstaltung?

Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen. Der Markt Türkheim organisiert regelmäßig Gedenkveranstaltungen an der Gedenkstätte, u.a. mit dem Musikverein, mit Beteiligung der Schulen und vieler anderer. Als 1985 angekündigt worden war: Dieses Jahr wird ein jüdischer Überlebender des KZ-Außenlagers sprechen, erwarteten die Mitglieder des Musikvereins mit eingezogenen Köpfen die Rede. Sie rechneten mit Prügeln für sie als Nachfahren. Der jüdische Überlebende war Viktor Frankl. Er verschwieg nicht das Leid und die vielen Toten. Aber er dankte – Menschen aus Türkheim! Und betonte: Nur das Gute soll zählen. Mit dieser unerwarteten und sich überschreitenden Rede eröffnete Frankl neue Zukunft. Die Menschen konnten aufschauen, nach vorne, nach oben? Frankl zeigte exemplarisch, wie Gedenken in die Zukunft führen, wie Gedenken Versöhnung bringen und aufatmen lässt.

Darum ist eine Gedenkfeier im Sinne Frankls heilsam für uns als Einzelne und für uns als Gesellschaft. Wir kommen her von einer unfassbaren Vergangenheit, werden aber in eine versöhnte Zukunft geführt, um Menschen zu werden und zu bleiben. Eine Feier am Ort des früheren Grauens: der Ort „spricht“ sein Wort, aber nicht der Ort hat das letzte Wort, sondern die verwandelnde „Trotzmacht des Geistes“.

Herr Dr. Specht, vielen Dank für das erhellende Gespräch und die berührenden Geschichten. Wir freuen uns sehr auf die weitere Zusammenarbeit und unser gemeinsames Projekt im kommenden Jahr.
An den Anfang scrollen