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Europäische Bildungsoffensive (Juni 2021)

Als Viktor Frankl (1905–1997) am 27. April 1945 aus dem KZ Türkheim durch amerikanische Soldaten befreit wurde, konnte er eine Weile nicht glauben, dass die wiedergewonnene Freiheit nun wirkliche Wirklichkeit ist. Als er, einige Monate später realisierte, dass niemand mehr aus seiner Familie lebt (bis auf die Schwester in Australien) durchlebte er die dunkelste Phase seines Lebens: „die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes“. Doch dann, durch Arbeit, durch seinen Willen zu einem unbedingten Sinn, aber noch mehr durch die Liebe seiner zweiten Frau Eleonore, fand er ab Mai 1946 mehr und mehr ins Leben zurück und bald [1948] wurde seine sinnorientierte Psychotherapie, die schon vor dem Krieg im Ansatz fertig ausgearbeitet war, mit den Begriffen Logotherapie und Existenzanalyse bezeichnet. Sie gehört heute, weil sie die Sinnkategorie ins Zentrum rückt, zu den herausragenden Aufbau-Kräften, die Europa braucht. Mit ihrem Menschenbild und kraft ihres sinnzentrierten Ansatzes kann die Logotherapie nicht nur in den Ausbildungsinstituten Logotherapeuten ausbilden, sondern sie gehört in die sozialethische und politische Bildung hinein und vermag, die Grundzüge einer neuen, humaneren, sinn- und werteorientierten politischen Kultur zu vermitteln, die wir dringend brauchen. Frankl selbst hat als Psychiater auf seine Weise mit einer „Bildungsoffensive“ begonnen, als er schon im Sommer 1947 geschrieben und das Geschriebene selber praktiziert hat: „In einer Zeit wie der heutigen, in der sich die Massen in einem seelischen Notstand sondergleichen befinden, ist es nötiger denn je, den seelischen Notstand auch zu steuern. Nicht nur fachärztliche Kreise, sondern auch kulturpolitische und religiöse [Kreise] sind sich ihrer diesbezüglichen Verantwortung bewusst; sie wissen, dass es gilt, die heutige Menschheit durch Erziehung vor dem letzten und endgültigen Absturz in einen Abgrund zu bewahren“ (V. Frankl, Die Psychotherapie in der Praxis, Vorwort). Und dann spricht Frankl von der Forderung nach einer sozialen Psychotherapie und von der Notwendigkeit einer kollektiven Psychohygiene, betonend, dass dem Ruf nach Verantwortungsbewusstsein Viele entsprechen sollen: die Forscher, die Lehrer, die Psychotherapeuten und die Pädagogen (weibliche Form mitgemeint). Denn es geht letztlich um den Dienst am seelisch kranken Menschen und das bedeutet konkret die Bündelung aller Heil- und Heilungskräfte im Dienst des homo patiens und, so lässt sich hinzufügen, im Dienst einer neuen, sinnorientierten europäischen Kultur.

Zu den Aufbau-Kräften, die die EU ermöglicht haben, zählen einige Menschen mit einem weiten geistigen Horizont und ein Dutzend Grund-Ideen, die alle um die unantastbare Würde des einzelnen Menschen zentriert sind. Die hier gemeinten Persönlichkeiten haben ihren Willen zum Sinn und ihren Willen zum Lieben in sich selbst so vereint, dass sie wertvolle Dauerimpulse generieren und festlegen konnten, und zwar so, dass von da an (nach dem Zweiten Weltkrieg) in Europa immer mehr Menschen erkannt haben, dass die Sammlung der Kräfte auf einen Grundkonsens hin und nicht die zerstörerische Zerstreuung Priorität haben. Die Sammlung der Kräfte heißt: Der Wille zur Macht wird dem Willen zum Sinn und dem Willen zum Lieben untergeordnet; die Ökonomie und die Ökologie werden zueinander in Beziehung gesetzt; der sinn- und werteorentierten Bildung wird eine hohe Priorität eingeräumt; die technologische Entwicklung wird durch Geisteseinsicht gelenkt. Das alles zu konkretisieren, ist Sache der Politik, der Institutionen, – der Akademien, der Schulen usw., – aber auch der Leitung in Brüssel, die m.E. ein fundiertes Konzept für das Fach „Geschichte Europas“ endlich vorlegen soll, aufgrund dessen dann in allen europäischen Ländern, zumindest in den Gymnasien, einheitlich unterrichtet wird, mit besonderer Berücksichtigung der Werte, die „der europäische Geist“ hervorgebracht bzw. entdeckt und geprägt hat. Gemeint sind: das Gute, das Schöne, das Wahre und das Heilige. Diesem Grundwerte-Quartett soll eine neue Bildungsoffensive besondere Aufmerksamkeit widmen.

Dies sind die Aufbau-Kräfte, welche den jüdisch-griechisch-römisch-christlich-arabisch geprägten Kulturkreis erhalten und sicher zukunftsfähig machen können. Damit aber ist ein Menschen- und Weltbild eng verbunden, dessen positive Elemente, kurz gesagt, diese sind: Der Mensch ist nicht Gott, aber er trägt in sich einen „Geistesfunken“ des Göttlichen. (Frankl sagt: Der Mensch ist eine heile geistige Person, welche die unbedingte Würde begründet und er ist ein auf die Transzendenz offenes Wesen). Die Welt (zuerst unsere Erde) ist nicht Ort der Ausbeutung der Mitmenschen und der physischen Ressourcen und der willkürlichen Herrschaft, sondern Lebensraum und Ort der harmonischen Gestaltung des Materiellen, des Sozialen und des Spirituellen. Das Zusammenleben aller Menschen auf Erden setzt einige universale ethische Prinzipien voraus, die nicht gemacht, sondern entdeckt werden (und wurden schon längst entdeckt, wie auch Amerika schon längst entdeckt wurde). Die Staatengemeinschaft, die sich in der UNO zusammengetan hat, sorgt für die Einhaltung der ethischen Prinzipien.
Nun, in der EU ist schon Vieles davon verwirklicht worden. Ullrich Fichtner hat in einem Beitrag gezeigt: Die EU ist eine „sanfte Macht“ geworden, die sich allen Krisen zum Trotz zum globalen Taktgeber entwickelt. Ihre Ideen von Recht und Regeln werden rund um die Erde zur Norm (vgl. DER SPIEGEL Nr. 4/23.01.2021, S. 17-21). Der Grundtenor des Beitrags ist, dass wir in Europa doch etliche Gründe haben, das bisher Erreichte schätzen und lieben zu lernen, weil (Zitat): „Die EU leistet mit großer Expertise auf vielen Feldern die harte Arbeit der Gesetzgebung und wird als Autorität in vielen Fragen anerkannt“ (Anu Bradford). Zum Beispiel in Fragen des Datenschutzes, der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit und der Menschenrechte. „Die ewige Furcht vor einem Brüsseler Kraken der alle Demokratie aus den Mitgliedsländern absaugt, hat sich nicht bestätigt. Ebenso wenig hat sich der Zerfall der Union ereignet, aus wechselnden Anlässen immer wieder vorhergesagt.“ Und dann heißt es: Unsere (europäische) Welt sei „viel gesünder, viel wohlhabender, viel fortgeschrittener und viel besser, als die meisten Menschen denken“ (Hans Rosling, ein europäisch fühlender schwedischer Arzt, der in armen Gegenden Afrikas und Asiens gearbeitet hat). Seine ermutigende Botschaft fasst der folgende Satz zusammen: „Wer immer nur die Hände ringt, hat keine Hand frei, um die Ärmel aufzukrempeln“, um dann anzupacken. Diese Art des Denkens und Fühlens „würde auch mit Blick auf die EU guttun“, denn dann könnte ein jeder Europäer sich vergegenwärtigen, „dass der Bund der europäischen Staaten für Hunderte Millionen Menschen eine Maschine für Frieden und Wohlstand und Lebenschancen war und ist. Man könnte stolz sein auf das Erreichte, und darauf, dass im Lauf der Jahrzehnte dank europäischer Initiativen wirklich vieles besser wurde für viele Menschen“, schreibt Ullrich Fichtner in seinem bemerkenswerten SPIEGEL-Beitrag. Die praktische Umsetzung der von der EU selbst gesetzten Ziele – Frieden bewahren, Weltklima retten, Naturzerstörung beenden, Menschen schützen und Menschenrechte hochhalten, materiellen Wohlstand mehren, Leben verbessern, Glück und Sinn suchen – bleibt weiterhin der Maßstab, woran die EU sich selbst messen muss. Der Rest der Welt hat schon erkannt, „dass es [in Europa] gelungen ist, einen ganzen Kontinent, auf dem sich die Menschen jahrhundertelang zerfleischten, zu einem Modell für das 21. Jahrhundert zu machen. Viel mehr (sanfte) Weltmacht geht nicht“, beendet Ullrich Fichtner seinen interessanten Beitrag.

Während wir uns in diesen Tagen daran erinnern, dass am 08. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg (vor 76 Jahren) durch Einsatz der Alliierten beendet werden konnte, – wobei die Auswirkungen des Krieges in den Seelen noch nicht ein Ende gefunden haben, – ist mit dieser Erinnerung die dringende Einladung eng verbunden, allerlei Formen des Fanatismus, Extremismus, Nationalismus
und Antisemitismus klare Grenzen zu setzen. Auch das gehört zur Bildungsoffensive. Der Ausdruck „Europa und seine Werte lieben lernen“ mag vielleicht unpassend sein, – denn lieben tue ich einzelne konkrete Menschen, nicht aber ein Kontinent, ein Volk, eine Partei oder eine Institution, – aber das damit Gemeinte, nämlich den europäischen Geist schätzen zu lernen, bringt dem fühlenden Bewusstsein die Einsicht näher, dass es um Wertschätzung der europäischen Werte geht. Werte aber werden gefühlt und erfühlt, während Begriffe gedacht werden. Beides nun, das Erfühlen der Werte und das sinngerechte Denken von bestimmten Begriffen – gepaart mit dem Willen zum Sinn, dem Willen zur Freude und dem Willen zum Lieben – machen die Aufbau-Kräfte aus, deren wir heute dringend bedürfen. Es kommt sehr darauf an, „dass beim zügigen Fortschritt [im technisch-wissenschaftlichen Bereich] der verantwortliche Umgang mit den Neuerungen, die der Fortschritt mit sich bringt, ebenso zügig mithält. (…) Solange das Gewissen die Technik an der Leine führt, kann und wird sie uns zum Segen gereichen. Nur wenn es die Leine loslässt – dann bewahre uns Gott“ (Elisabeth Lukas).

Das Wort Gewissen meint hier die spezifisch geistig-menschliche Fähigkeit (nicht nur das Zweckmäßige, sondern) das Sinnvolle abzutasten und zu erkennen. In anderen Worten: Die Verstandeseinsicht soll der Geisteseinsicht untergeordnet werden. Die Europäische Bildungsoffensive muss notwendigerweise zentrale Elemente der Herzens- und der Geistesbildung anvisieren und umsetzen. Die nicht aufzuhaltende Digitalisierung als Hinweis für den technischen Fortschritt im weiten Sinn braucht einen Kontrapunkt, einen Ausgleich durch Schulung und Bildung der Seele und des Geistes. Nicht nur die Logotherapie eignet sich hierfür, sondern Fächer wie Kunstgeschichte, Musik, Philosophie, Ethik und nicht zuletzt die spirituelle Schulung des Willens wie sie, zum Beispiel, Ignatius von Loyola in seinen Exerzitien dargelegt und praktiziert hat. Auf die Formung und Schulung des Willens zum Sinn, des Willens zur Freude und des Willens zum Lieben kommt es entschieden an, wollen wir in Europa eine wirklich neue, von Hass und Fanatismus gereinigte Kultur hervorbringen.
Diese Gedanken sind in der europäischen Politik noch nicht oder kaum präsent. Doch diesen Gedanken und Ideen im Rahmen einer Europäischen Bildungsoffensive mehr Wirkungsweite zu ermöglichen, könnte sehr wohl dazu beitragen, dass wir umkehren und allerlei Tendenzen der Zerstörung Einhalt gebieten. Unsere Kinder und Enkelkinder werden dafür dankbar sein. (Otto Zsok)

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