Alle Schuld dem Westen? Über das Narrativ des Erdenmenschentieres (Juni 2022)
Das Narrativ des Kreml-Chefs hat sich seit dem 24.02.2022 nicht verändert, es ist nur aggressiver, dreister und noch mehr realitätsfern geworden. Beim Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg (17. Juni 2022) verbarg er seine Abneigung gegen den Westen nicht. In Essenz gipfelte sein Narrativ in dem Satz: Nach Beendigung des Kalten Krieges hätten sich die USA zu „Gottes Repräsentanten auf Erden erklärt“, und für den heutigen Hunger in den ärmsten Ländern der Welt seien allein die US-Regierung und die Bürokraten in Brüssel verantwortlich. Und jetzt, wo er, Putin, die „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine durchführe, nutze der Westen die Situation, um ihm die Schuld dafür anzuhängen. (Vgl. SZ, 18./19.06.2022, S. 7)
Zwischen diesem Narrativ und dem Narrativ von Donald Trump erkennt der Zuhörer keinen Unterschied – außer der Sprache. Das von Donald Trump auf Englisch vorgetragene Narrativ vom gebeutelten Amerika, das endlich zur alten Größe zurückfinden müsse, hat etwa 70 Millionen Amerikaner emotional angesprochen und mitgerissen – in welche Richtung? Und: Welch ein Ungeist sprach aus diesem Narrativ? Und: Wer ist daran schuld? Demgegenüber erklang das Narrativ von Wladimir Putin auf Russisch und hat, vorsichtig ausgedrückt, auch 70 Millionen Russen emotional mitgerissen. Wer ist daran schuld, dass solche Narrative in die Welt gesetzt werden?
Die strukturiert und öfters vorgetragene Erzählung von Wladimir Putin und Donald Trump klingt – wie in einem Märchen – für viele Ohren plausibel: Es gibt Bösewichte (die Anderen), es gibt Helden (der Ex-US-Präsident oder der Kreml-Chef) und eben die Schwierigkeiten, die die Helden überwinden. Es gibt Probleme und diejenigen, die diese Probleme lösen. Manchmal handelt es sich aber um künstlich gemachte Probleme, um von der eigentlichen Intention einer Regierung oder eines Regierungschefs abzulenken. Dieses Narrativ-Muster haben schon Napoleon und nach ihm alle Diktatoren – über Stalin, Hitler, Ceauşescu, Milošević, bis Putin und Trump – benutzt, um die Geschehnisse angeblich zum Guten zu beeinflussen. Dieses Muster benutzen auch einige EU-Politiker, wenn es ihnen gerade nützt.
Die sich dahinter verbergende Skrupellosigkeit wird von vielen nicht auf den ersten Blick erkannt. Entsteht emotionale Resonanz in vielen einzelnen Menschen, wird dem Narrativ geglaubt.
Dabei ist nicht die Gattung Narrativ – Erzählung – an sich das zerstörerische Element, sondern der Ungeist, aus dem ein Narrativ entspringt. Der Ungeist will nicht Wahrheiten kenntlich machen. Dem Ungeist geht es nicht um Wirklichkeitsaufhellung. Den Ungeist interessiert nur das eigene Interesse, das eigene Ego, die eigene Macht, das eigene Weltbild und die eigene Ideologie – all das gespeist durch eine Herrschsucht, die sich als „Gott“ ausgeben will auf dieser Erde.
Die authentische, wahre und geistig begründete Herrschaft sieht aber anders aus, wie das folgende, aus dem Ur-Geistigen gestaltete Narrativ nahelegt:
Nachdem Jesus ihnen die Füße gewaschen und sich wieder zu Tisch gelegt hatte, sagte er zu ihnen: „Versteht ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich ‚Meister‘ und ‚Herr‘, und ihr habt Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, müsst auch ihr einander die Füße waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr tut, wie ich euch getan habe“ (Johannesevangelium 13, 12-15).
In aller Ewigkeit bleibt diese Sinn-Botschaft gültig und wahr, und in aller Ewigkeit bleiben die meisten scheinbar Mächtigen dieser Welt blind für diese Botschaft. Und deshalb müssen sie die Schuld immer bei den Anderen suchen. → Das ist das Narrativ des Erdenmenschentieres. (O. Zsok)