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Den „tragischen Optimismus“ Frankls heute leben (Dr. János Vik I Mai 2024)

Woran denkt Frankl, wenn er „tragischen Optimismus“ sagt?

Frankl hat diesem Thema einen Festvortrag gewidmet, den er auf dem 3. Weltkongress für Logotherapie an der Universität Regensburg gehalten hat. Der Kongress fand zwischen den 16–19. Juni 1983 statt. Und der Titel seines Festvortrages, den er auf English gehalten hat, lautet: „Argumente für einen tragischen Optimismus“. (Vgl. in: Frankl, Der Leidende Mensch, Verlag Hans Huber, Bern 1996, 51–63).

Zu Beginn stellt Frankl fest, dass die ständige Suche des Menschen nach Sinn „unter den gesellschaftlichen Bedingungen von heute immer mehr als vergeblich herausstellt“. (51). Schon hier wollen wir bedenken, dass die Aussagen Frankls in diesem Vortrag zwar vor über 40 Jahre formuliert worden sind, dass sie gleichwohl nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben. Das zeigt sich vor allem daran, dass Frankl diese von ihm genannte existenzielle Frustration, d. h. die Sinnfindungskrise nicht im gesellschaftspolitischen Kontext zu verstehen versucht – wobei hier wahrscheinlich Parallelen ebenfalls aufstellen ließen –, nein, Frankl sucht auch hier den anthropologischen Zusammenhang, der nicht weniger konkret ist, und meint, dass „eine solche Frustration (…) auf das Konto jener tragischen Trias zu buchen“ ist, zu der Leid, Schuld und Tod gehören. Wie wahr ist es also, dass auch heute – mehr als 40 Jahre später – „niemand unter uns“ ist, „dem es erspart bliebe, konfrontiert zu werden mit unvermeidbarem Leid, mit unausweichlicher Schuld und schließlich mit seinem unentrinnbaren Tod“. (51).

Frankl ist weiter davon überzeugt, dass die von ihm hier angesprochene Sinnfindungskrise mit jenen Fragen in Verbindung steht, die die tragische Trias berechtigterweise aufwirft: Wie ist es möglich dem Leben trotz dieser tragischen Aspekte der menschlichen Existenz zugewandt zu bleiben? Und noch konkreter, kann das Leben angesichts dieser leidvollen Aspekte überhaupt einen Sinn haben, bzw. seinen „Sinn unter allen Bedingungen und Umständen behalten?“ Frankls Antwort ist ein eindeutiges Ja-Wort. Ja, man kann der Sinnfindungskrise – angesichts der tragischen Trias – ausweichen, indem man es versucht, aus diesen leidvollen Aspekten des Lebens, „ja vielleicht gerade aus ihnen etwas Sinnvolles ‚herauszuschlagen‘ und sie solcherart in etwas Positives zu transformieren“. Bei dieser Transformation in etwas Positives geht es für Frankl schließlich sogar darum, „das Beste daraus zu machen“; und weil das Beste auf Lateinisch „Optimum“ heißt, kreiert Frankl in Bezug auf die Aufgabe, „das Beste aus der tragischen Trias zu machen“, den für uns heute, in diesem Vortrag zentralen Begriff des „tragischen Optimismus“. (51).

Worin besteht also das Beste, das man aus diesen drei schicksalhaften Daseinsphänomenen – Leid, Schuld und Tod – herausholen kann? Frankls neu entdeckte Antwort für die Logotherapie und Existenzanalyse lautet: das Beste ist, wenn man unvermeidbares Leid in Leistung, unausweichliche Schuld jedoch in Wandlung transformiert; die Unentrinnbarkeit des Todes sollte gleichwohl „am besten“ als Ansporn zum verantworteten Tun aufgefasst werden. Also, „Leistung“, „Wandlung“ und „Ansporn“ – diese drei Begriffe sind die tragenden Säulen des „tragischen Optimismus“ Frankls, und ja, sie machen ihn auch lebbar.

Bleibt jedoch die berechtigte Frage: Wie geht es denn im Leben konkret, Leiden in Leistung, Schuld in Wandlung zu transformieren, und den Tod als Ansporn zu betrachten? Auf keinem Fall denkt Frankl hier an einen „tragischen Optimismus“ auf Befehl. Den „tragischen Optimismus“ leben, heißt vielmehr einen ganz persönlichen inneren Weg zu gehen. Und das Gehen dieses personalen inneren Weges kann an niemanden delegiert werden. In den folgenden Ausführungen wollen wir uns diesen inneren Weg in seinen Grundsätzen nachzeichnen. Und wir wollen uns hier den Grundphänomenen der tragischen Trias in einer umgekehrten Reihenfolge widmen.

Erstens: Wie schafft man es also, angesichts der Unentrinnbarkeit des Todes am Leben nicht zu verzweifeln? Viktor Frankl betrachtet den Tod zunächst einmal nicht als Ende, sondern als Teil des menschlichen Lebens. Und als solcher „besiegelt [der Tod] die Einmaligkeit unseres konkreten Lebens“. (Riedel – Deckart – Noyon, EA u. LT, Primus Verlag, Darmstadt 2002, 115), ja, die Einmaligkeit eines jeden Augenblicks. Angesichts des Todes den „tragischen Optimismus“ zu leben, heißt also primär, sich „an seine Verantwortlichkeit gegenüber jedem Lebensmoment zu erinnern“. (116). Jeder Lebensmoment ist in dieser Hinsicht ein günstiger oder geeigneter Zeitpunkt, also Kairos, in dem eine einmalige Sinnmöglichkeit ergriffen und dadurch ein Wert für immer verwirklicht werden kann. Frankl nimmt natürlich ebenfalls wahr, dass der Tod die eindeutige Grenze unserer Zukunft und die Begrenzung unserer Möglichkeiten in dieser Welt darstellt. Im Moment unseres Todes hört die Zeit für uns auf, aus der Zukunft durch die Gegenwart hindurch Richtung Vergangenheit zu fließen. Erst an dieser endgültigen Grenze des Todes wird unser Leben zur Gestalt, erst hier rundet der Mensch das eigene Leben zu einem in sich geschlossenen Ganzen.

In einem der bekanntesten Gleichnisse von Frankl erscheint der Mensch als ein Wesen, das gleichzeitig Bildhauer und selbst das Kunstwerk des eigenen Lebens ist. Jeder Mensch verarbeitet den Stoff seines Lebens, „den das Schicksal ihm liefert: bald schaffend, bald erlebend oder leidend, versucht er, aus seinem Leben an Werten ‚herauszuschlagen‘, soviel er kann, an schöpferischen oder Erlebniswerten oder Einstellungswerten.“ Der Mensch ist dazu gezwungen, jeden Moment zu nützen, und sich der Fertigstellung seines Kunstwerks zu widmen, wobei er dessen bewusst ist, dass ihm dabei nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht. Er wendet sich also seinem Lebenskunstwerk in jedem Augenblick zu, „auf die Gefahr hin, dass sein Werk als Torso zurückbleibt“, und zwar in dem Moment, wo er als „Bildhauer“ aus diesem Leben abberufen wird. Allerdings macht die Tatsache, dass er sein Kunstwerk nicht vollenden konnte, es noch lange nicht wertlos – sagt Frankl. (Frankl, Ärztliche Seelsorge, dtv, München 52005, 121).

Allerdings hängt die Bedingung der Möglichkeit, dass der Mensch die Endlichkeit, das Unvollendetsein seines Lebenskunstwerks voll und ganz akzeptiert, wohl damit zusammen, dass er an einen alles umfassenden, letzten Sinn, also an einen Übersinn, grundsätzlich glauben kann. Darüber jedoch erst später mehr.

Zweitens: Wie kann sich unausweichliche Schuld in innere Wandlung transformieren? Was meint Frankl überhaupt mit Schuld als Daseinsphänomen? Die Schuldmöglichkeit des Menschen hängt bei Frankl mit der Spannung von Freiheit und Verantwortlichkeit zusammen. Der Mensch kann Schuld auf sich laden, indem er eine Wahl wider den Sinn trifft, die Leid verursacht, also eine leidvolle Auswirkung in seiner Lebenswelt und in ihm selbst zeigt. In diesem Sinne wird die Schuld allerdings erst ab dem Moment unausweichlich, wo ein Mensch durch ein Sinn-Versäumnis schon schuldig geworden ist. Erst ab diesem Moment wird die Schuld unausweichlich zum schicksalhaften Bereich seines Lebens gehören.

Frankl bietet eine persönliche Interpretation in Bezug auf die Schuldfähigkeit des Menschen in seinem anfangs erwähnten Festvortrag an. Dabei stützt er sich auf das Konzept vom „mysterium iniquitatis“, das für ihn besagt, dass „eine Untat, ein krimineller Akt, insofern letzten Endes mysteriös ist, als immer ein Rest bleibt, (…) den wir nicht mehr im Netz von Ursachen und Wirkungen einfangen können“. Im Netz von Ursachen und Wirkungen hätten wir ja „nicht mehr mit einem menschlichen, will heißen schuldfähigen Täter zu tun (…), sondern nur noch mit einer reparaturfähigen Maschine“. (Frankl, Der Leidende Mensch, 60). Deshalb tun wir schließlich einem Menschen Unrecht, wenn wir ihn aufgrund dessen beurteilen, oder vielleicht sogar verurteilen, was er auf der biologischen, psychologischen und soziologischen Ebene mitbringt, und nicht aufgrund dessen, was er daraus gemacht hat. (61).

Die Bedingung der Möglichkeit, dass Schuld zur inneren Wandlung führt, also dass der „tragische Optimismus“ auch in Folge des Schuldig-geworden-seins lebbar ist, besteht demzufolge darin, dass der Mensch jenen inneren Akt der Reifung vollzieht, den Frankl – im Anschluss an Max Scheler – Reue nennt. Im Akt der Reue distanziert sich der Mensch innerlich nicht nur von der Tat, sondern auch von der Einstellung, die zu seiner schuldhaften Tat führte. Durch die Reue stellt er sich seiner Verantwortung. Ja, man kann sogar sagen, dass es zur Würde eines jeden Menschen gehört, dass er Verantwortung für seine Schuld übernehmen kann und darf. Durch die Übernahme der Verantwortung gewinnt er die Freiheit zurück, seine Tat wieder gut zu machen, indem er „an die Stelle der Sinnwidrigkeit oder des Sinnversäumnisses einen neuen Sinn setzt“. (Riedel – Deckart – Noyon, EA u. LT, 114).

Drittens: Wie komme ich vom unabänderlichen Leid zu Leistung? Oder, anders formuliert, wie lebe ich Leiden als Leistung? Für Viktor Frankl ist es zunächst einmal klar, dass Leid an sich niemals einen Sinn aufweisen kann. Leiden zu müssen, ist und bleibt ein tragisches Daseinsphänomen. Deshalb hat für Frankl absolute Priorität, dass unnötiges Leid, wo es nur möglich ist, jedes Mal gelindert und aus der Welt geschafft werden soll. Das ist die einzig sinnvolle personale Antwort auf eine leidvolle und zugleich heilbare Situation.

Es werden jedoch noch genügend Lebenssituationen geben, in denen das Leiden unabwendbar und unabänderlich ist. Diese, und nur diese Situationen bringen die Möglichkeit mit sich, Leiden in eine Leistung zu transformieren. Natürlich werden dabei in der Logotherapie und Existenzanalyse Frankls die Gefühle der Macht- und Hilflosigkeit, jene depressive und aggressive seelische Zustände nicht außer Acht gelassen, die mit der Erfahrung der Unabänderlichkeit des Leidens einhergehen. Sie dürfen sein und auch bleiben, solange sie da sind. Einzig und allein der Fixierung auf den psycho-physischen Ausdruck des Leidens soll in der Logotherapie „durch die personale Perspektive“ (112) entgegengewirkt werden. In der personalen Perspektive geht es gleichwohl darum, die Trotzmacht des Geistes im leidenden Menschen zu aktivieren. Und wenn „die richtige lebensthematische Mitte“ darin besteht, „Sinnerfüllung trotz des Leides“ zu erleben, dann geht es hier darum, eine Einstellung zu finden, die „den Sinn der Lebenslage – und nicht allein des Leidens – erschließt“. (112).

Auf dem inneren Weg also, auf dem – im Sinne des „tragischen Optimismus“ – unabänderliches Leid in Leistung, oder wie Frankl noch zu sagen pflegt, in einen „persönlichen Triumph“ (Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, München 31988, 62) umgestaltet wird, geht es nicht mehr darum, gegen das Leid zu kämpfen, sondern vielmehr darum, sich – durch das Leiden hindurch – die verbliebenen freien und deshalb auch heilen geistigen Lebensräumen zu entdecken, sich ihnen zuzuwenden. Im Sinne Frankls ist Leidensfähigkeit nämlich keine Charaktereigenschaft, sie wird nicht angeboren. Vielmehr muss der Mensch sie sich erwerben, „er muss sie sich erst er-leiden“. (Frankl, Der leidende Mensch, 203).

Die Bedingung der Möglichkeit des Erwerbens der Leidensfähigkeit besteht allerdings darin, dass ich unabänderliches Leid als Teil meines menschlichen Lebens voll und ganz annehme, und zugleich darauf vertraue, dass ich mich nicht mit meinem unabänderlichen Leid unbedingt identifizieren muss, sondern, dass ich Selbst – nicht nur durch das Leid hindurch, sondern auch über das Leid hinaus – bin. Also, erst nachdem das Akzeptieren dieses tragischen Faktes mir gelungen ist, wird kostbare geistige Kraft in mir frei, dem Leben in allen seinen Formen zugewandt zu bleiben, und gerade dadurch eine neue wertvolle Einstellung zu meinem veränderten, weil schicksalhaft leidgeprüften Leben zu finden. Das ist für Frankl Leistung, persönlicher Triumpf, höchstmöglicher Wertverwirklichung, und das vor allem wegen ihres Vorbildcharakters. Es ist – meines Erachtens – sogar zu bezweifeln, dass das Erwerben der Leidensfähigkeit ohne bewusst, oder unreflektiert verinnerlichte Vorbilder konkret überhaupt möglich wäre.

Fazit: Fassen wir das Bisherige zusammen: Frankls existenzanalytische Argumentation mündet angesichts der „tragischen Trias“ in einen „tragischen Optimismus“. Damit meint er die innere geistige Einstellung des leidenden Menschen, durch die er darauf aus ist, sogar aus den tragischen Daseinsphänomene des Lebens – also aus Leid, Schuld und Tod – das Beste hervorzuheben, das noch da und möglich ist. Angesichts des Todes ist das Optimum, jeden Augenblick als günstigen Zeitpunkt für die Wahrnehmung eines Sinnanrufes dankbar anzunehmen. Die optimale Antwort auf begangene Schuld ist Reue, die die schuldbeladene Person wieder frei werden lässt; frei für eine Form der Wiedergutmachung und für die innere Wandlung zu einer reiferen Persönlichkeit. Gegenüber unabänderlichem Leid ist es die optimale Leistung, es zunächst einmal als Teil der menschlichen Existenz zu akzeptieren; und das heißt, die Einstellung, durch das Leid hindurch dem Leben zugewandt zu bleiben, ist hier das Bestmögliche und lässt einem ungewollt zum Vorbild für die Mitmenschen werden.

Verwendete Literatur:

Viktor E. Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, München 31988.
Viktor E. Frankl, Der Leidende Mensch, Verlag Hans Huber, Bern 1996.
Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge, dtv, München 52005.
Christoph Riedel – Renate Deckart – Alexander Noyon, Existenzanalyse und Logotherapie. Ein Handbuch für Studium und Praxis, Primus Verlag, Darmstadt 2002.

 

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